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Frösche die langsam in ihren Töpfen kochen

Frösche die langsam in ihren Töpfen kochen

Die auf Regeln basierende liberale Ordnung war in Teilen immer eine Illusion – wenn auch eine, die einen Großteil der Welt für eine gewisse Zeit im Griff hatte.

George Kennans berühmtes „langes Telegramm“ aus Moskau von 1946 war in erster Linie eine scharfsinnige Analyse der dem sowjetischen Modell inhärenten strukturellen Widersprüche. Sie führte zu der analytischen Schlussfolgerung, dass die UdSSR letztlich unter dem Gewicht ihrer eigenen Schwächen zusammenbrechen würde. Das Telegramm wurde vor etwas mehr als siebzig Jahren geschrieben.

Andere haben sich daran versucht: Nur vier Wochen nach Bidens Amtsantritt wurde „The Longer Telegram“ – ein von einem anonymen ehemaligen hohen Regierungsbeamten verfasster Aufsatz, der für eine neue amerikanische China-Strategie plädiert [1] – mit großem Beifall veröffentlicht. Kennans Original war jedoch eine tiefgreifende Bewertung, wie die Sowjetunion funktionierte (oder auch nicht), aus der Kennans Vorhersage hervorging, dass das sowjetische System letztendlich implodieren würde. Es genügte, Geduld zu haben.

Dieses zeitgenössische „Longer Telegramm“ ist jedoch ein Schwindel, welcher sich als tiefgreifende Einschätzung – im Kennan-Stil – ausgibt, während es in Wirklichkeit eine abgestandene Wiederholung des üblichen US-Interventionismus-Drehbuchs ist. Wenn auch ein Drehbuch, das auf China [2] abzielt (im Gegensatz zum Iran, obwohl die Methodik dieselbe ist). Es wurde irreführenderweise unter dem „Kennan“-Etikett verkauft. Es zeigt auf, wie man eine Implosion herbeiführen kann: Handeln statt Geduld. Es ist unwahrscheinlich, dass die Geschichte dieses jüngste Telegramm wohlwollend behandeln wird.

Nichtsdestotrotz gibt es tiefgreifende strukturelle Widersprüche, die die Auflösung des Systems beschleunigen – und die heute viele Menschen beunruhigen, die sich fragen, wie die Zukunft sich entwickeln wird, wie sie aussehen wird, und ob sie irgendwie überleben werden. Denn die strukturelle Dynamik mahlt laut und erzeugt eine überhitzte Politik.

Würden wir jedoch die jüngste Valdai-Rede [3] von Präsident Putin mit den Äußerungen von Sergej Lawrow und Präsident Xi verknüpfen, könnten wir feststellen, dass wir ein diskursives „Längstes Telegramm“ vor uns haben, das auf die inneren Widersprüche der westlichen Kultur- und Wirtschaftsstrukturen hinweist.
Putin unterstrich, dass es sich um kulturelle und ideologische Prozesse ähnlicher Art handelte, die Russland in den Jahren 1917 und 1920 schon heimgesucht hatten – mit enormen menschlichen Verlusten. Alle Systeme, die von der Gewissheit einer bestimmten Illusion besessen sind, haben ihre Widersprüche. Die Frage ist, ob sie die ganze „Sandburg“ kaskadenartig zum Einsturz bringen werden. Präsident Putin sprach aus Erfahrung – bitterer Erfahrung.

Betrachten wir zunächst die offensichtlichen Widersprüche, die dem amerikanischen „Gesicht“, wie es sich der Welt heute präsentiert, innewohnen: Team Biden (wie auch viele andere) will unbedingt ein Klimaziel erreichen; John Kerry sagt ihm ganz offen, dass jedes Klimaabkommen von der Zusammenarbeit mit China abhängen muss. China ist einfach zu groß, um übergangen zu werden. Jake Sullivan (und die China-Falken) sagen Biden jedoch, dass die moralisch-kulturelle Agenda – Menschenrechte, Behandlung der Uiguren, Hongkong, Tibet und vor allem Taiwan – Themen sind, die nicht wie bei Chamberlain für ein „Stück Papier“ eingetauscht werden können, das zu unseren Lebzeiten eine Netto-Null-Kohlenstoffbilanz verspricht.

Letztere befürchten, dass Biden ihre Druckpunkte – ihre Zermürbungsinstrumente -, mit denen sie die Vormachtstellung der USA gegenüber China zu erhalten hoffen, zugunsten hohler Klimaversprechen aus Peking „verschenken“ wird.

Der Widerspruch wird also immer deutlicher: Einerseits beschleunigen die „China-Falken“ die stückweise Aufgabe der „Ein-China“-Verpflichtung und gaukeln Taipeh vor, dass die USA „hinter ihnen steht“, sollte China eine Wiedervereinigung mit militärischer Gewalt versuchen.

Aber vielleicht wird die taiwanesische Führung durch diese Strategie zu der Überzeugung gelangen, dass sie Amerika wirklich hinter sich haben. Vielleicht gibt es sogar Momente, in denen auch Biden glaubt, ihnen den Rücken freizuhalten; oder in denen er denkt, dass Amerika dies tun sollte. Warum nicht? Taiwan „teilt die amerikanischen Werte“, sagt seine Regierung. Das ist wage. Interessanterweise drängen einige in seiner progressiven Fraktion auf „Kriegsbefugnisse“ für Biden wegen Taiwan, während sie gleichzeitig am lautesten auf eine radikale Klimapolitik pochen.

Andererseits halten die Chinesen den Glauben der USA, sie könnten eine chinesische Invasion abwehren, sollte es zu einer solchen kommen, für Phantasterei. Wahrscheinlich denken sie, dass die USA Blankoschecks ausstellen, d.h. dass Biden blufft. China wird geduldig sein, bis Taiwan seine „Unabhängigkeit“ erklärt.

Dieser „Blindflug-Ansatz“ ist auch im Fall der Ukraine zu beobachten: Die Biden-Regierung sagt, dass die Tür zur NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine offen stehe. Die EU deutet eher kleinlaut an, dass auch die Tür zur EU-Mitgliedschaft „irgendwie“ offen sei. Zwei weitere geplatzte Schecks.
Aber hier wittert Kiew eine Falle: Man vermutet dort, dass sie lügen und ist verzweifelt. Ihre wirtschaftliche Lage ist mehr als katastrophal. Das Wasser im Topf beginnt zu kochen. Vielleicht kommt es dann zu der Überzeugung – angesichts all dieser Schecks, die angeblich auf Kiew ausgestellt sind – dass „ein Frosch“ aus dem Topf springen muss, um nicht gekocht zu werden – in der Hoffnung, dass ein Angriff auf den Donbass die westliche Unterstützung erzwingen und die ansonsten nicht eingelösten Schecks einlösen wird.
Der strukturelle Widerspruch ist also wieder einmal offensichtlich.

Der Westen versucht, die Ukraine als Aufhänger zu benutzen, um Russland mit der NATO zu drohen. Aber es gibt keine Möglichkeit, den Donbass von Kiew zurückzuerobern (Moskau wird es nicht zulassen, und die NATO weiß, dass sie sich nicht durchsetzen kann).

Der Punkt ist, dass die Ukraine entweder den Status Quo beibehält und an ihren eigenen wirtschaftlichen und politischen Widersprüchen zerbricht („gekocht wird“), oder an den Kräften im Donbass zerbricht und als zerstückelter Staat endet. Am Ende werden die Ukraine und Europa geschwächt sein – so oder so.

Dieser Widerspruch ist offensichtlich; ein weiterer besteht darin, dass Brüssel offenbar zu der Überzeugung gelangt ist, dass die leeren Drohungen der EU (und der NATO) in Moskau ein gewisses Gewicht haben; und dass Putin schließlich Kiew aus der Patsche helfen wird (weshalb die EU ständig für einen Gipfel im Normandie-Format plädiert).

Moskau jedoch betrachtet Brüssel inzwischen mit völliger Verachtung. Sie werden es als Bluff betrachten und davon ausgehen, dass die USA – die all diese ungedeckten Schecks ausgestellt hat – das daraus resultierende Chaos vor der europäischen Haustür abladen wird. In einem Satz: Die Verachtung, mit der die russische Führung das EU-Establishment betrachtet, wird sich nur noch mehr vertiefen.
Dies ist ein ebensolcher Widerspruch, wie die Tatsache, dass die EU dringend auf russisches Gas angewiesen ist, um sich im kommenden Winter warm zu halten, während sie gleichzeitig keine Gelegenheit auslässt, ihren Hauptlieferanten zu beschimpfen.
Gleich weiter zum nächsten überdeutlichen Widerspruch – Iran: Biden wollte offenbar, dass der Iran in die „Box“ des JCPOA (Joint Comprehensive Plan of Action – Wiener Nuklearvereinbarung mit Iran, Anm. d. Red.) zurückkehrt. Er war aber nicht bereit, den Preis dafür zu zahlen. Er wollte den Preis niedrig halten, damit er genug „Druck“ ausüben konnte, um den Iran zu zwingen, ein „stärkeres und längeres“ JCPOA der „Mark Two“ zu akzeptieren, das zusätzlich das iranische Raketenabwehrsystem und seine Netzwerkverbindungen zu regionalen Verbündeten einschließen sollte.

Auch hier spricht das Team Biden von „anderen Optionen“: ein Plan „B“ sei in Arbeit, falls der Iran nicht zur vollständigen Einhaltung des JCPOA zurückkehren sollte. Selbst die Israelis verstehen, dass die USA nicht in einen Krieg mit dem Iran ziehen. Das ist ein Bluff.
In der Tat hat ein hochrangiger israelischer Militärkommentator ausdrücklich gesagt, dass Israel in einem Topf mit langsam aufkochendem Wasser sitzt [4] (eine Anspielung darauf, dass der Iran Israel mit intelligenten Raketen umzingelt hat). Jedoch wird kein israelischer politischer Führer die Entscheidung treffen, aus dem Topf zu springen, bevor der Frosch totgekocht ist – aus Angst dabei im Feuer zu landen, das den Topf erhitzt.

Was hat es mit dieser Reihe von nicht sehr glaubwürdigen Bluffs auf sich? Sie sind vor dem Hintergrund von Amerikas eigenen strukturellen Schwierigkeiten zu sehen: Angefangen von einer Energiekrise über eine sich beschleunigende Inflation bis hin zur Abwanderung von Arbeitskräften, von Lieferengpässen, leeren Regalen, Lebensmittelknappheit, Mangel an wichtigen Rohstoffen und Chips; von überfüllten Containerhäfen, Spannungen bei Impfstoffpflichten und Rücktritten, festgefahrenen Legislativprogrammen bis hin zum Widerspruch zwischen einer finanzialisierten Realwirtschaft, die auf niedrigen Zinssätzen aufbaut, und der Unvermeidlichkeit ihrer baldigen Erhöhung. Kurzum: Das Wasser im Topf wird sehr heiß.
Und hier liegt der eigentliche Widerspruch, der von Pat Buchanan hervorgehoben wurde:

„Im Gegensatz zu früheren Generationen sind die Spaltungen im 21. Jahrhundert viel tiefer – nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern auch sozial, moralisch, kulturell und ethnisch. Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehe und Transgender-Rechte spalten uns. Sozialismus und Kapitalismus spalten uns. Affirmative Action, Black Lives Matter, städtische Kriminalität, Waffengewalt und kritische Race-Theorie spalten uns. Der Vorwurf des weißen Privilegs und der weißen Vorherrschaft sowie die Forderung, dass die Chancengleichheit der Verdienstgleichheit weichen muss, spalten uns. Bei der Covid-Pandemie entzweien uns das Tragen von Masken und Impfvorschriften.“ [5]

Dieser Punkt von Buchanan trifft den Kern von Russlands und Chinas diskursivem „Telegramm“: Der Westen hat sein Streben nach globaler Vorherrschaft genau auf eine bestimmte Darstellung seiner eigenen sozialen, moralischen, kulturellen und ethnischen Verwerfungen ausgerichtet, die zur Untermauerung globaler Werte genutzt werden.

Präsident Putin sagte jedoch auf der Valdai-Konferenz: „Wir gehen den Weg mit Ihnen, wenn es um Umweltschäden und das Klima geht (‚Sie sind zweifellos real‘), aber wir werden Ihre ideologischen, moralisch-kulturellen Agenden nicht akzeptieren“; das haben wir bereits getan und die Folgen 1917 gesehen. Xi sagte es ähnlich: Halten Sie sich raus.

Diese Ablehnung macht die globalistische Agenda zunichte. Sie lehnen es ab, dass Themen wie die Identitätsrechte in Afghanistan zum Gegenstand internationaler Politik werden oder die Afghanen unter Druck setzen (sie sollten auf andere Weise behandelt werden). Sie bringen die Politik zurück zum souveränen Staat. Putin sagte: Schauen Sie, was passiert ist als die Covid-Krise ausbrach: Da war jeder Staat für sich – das ist die Realität.

Dies verweist auf den Meta-Widerspruch in dem Versuch, eine universelle Weltsicht durch eine imaginäre alternative Realität zu schaffen (wie es die Bolschewiki versucht hatten).

Die auf Regeln basierende liberale Ordnung war zum Teil immer eine Illusion – wenn auch eine, die einen Großteil der Welt für eine gewisse Zeit im Griff hatte. Macht war überall wichtiger als Regeln, aber die Illusion behielt ihre langsam erodierende Aura der Stabilität, bis sich die Macht woanders hin verlagerte. Und diese Verschiebung hat jetzt stattgefunden.

Vielleicht ist dies für das westliche Establishment kulturell zu schwer zu ertragen. Das ganze Bluffen mag der Ablenkung dienen. Die Gefahr besteht jedoch darin, dass einige US-Eliten ihren eigenen Bluffs Glauben schenken. Das Wasser im Topf erreicht den Siedepunkt. Vielleicht ist der Frosch schon zu zombifiziert, zu entnervt von der Hitze, um zu springen – und wenn er es versuchen sollte, könnte er feststellen, dass er nicht mehr die Energie und Vitalität hat, um die Brände unter ihm zu löschen – möglicherweise die Brände von Taiwan, Iran oder der Ukraine.