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Analyse – Regimewechsel: Warum Iraner davor warnen, dass Israels Fantasie zum Albtraum werden könnte

haaretz

Die meisten Analysten sind sich einig, dass Israels expansive Angriffe auf den Iran letztlich nur der Führung der Islamischen Republik zugutekommen – auch wenn Benjamin Netanjahu und viele Israelis sich selbst irgendwie als Retter des iranischen Volkes betrachten. „Es sieht langsam aus wie Gaza“, sagt ein Experte.

Benjamin Netanjahu hat viele Pläne für den Iran. Zu seinen formulierten Kriegszielen gehören, die Bedrohung durch das iranische Atomprogramm und das Raketenarsenal zu beseitigen. Gleichzeitig äußert er oft die Hoffnung, das iranische Volk werde sich erheben und sich selbst von dem, wie er es nennt, „bösen Regime“ der Islamischen Republik befreien.

Beobachter spekulieren ferner, Netanjahu habe den Krieg begonnen, um die US-Diplomatie mit dem Iran zu untergraben, oder Washington habe den Schlag gutgeheißen, um seine eigene Verhandlungsposition zu stärken. Der israelische Premier deutet zudem Regimewechsel an – was einen erzwungenen Sturz durch eine ausländische Macht impliziert, möglicherweise sogar die Tötung des Obersten Führers Ayatollah Ali Khamenei. Berichten zufolge hat US-Präsident Donald Trump Netanjahu bisher von diesem Plan abgehalten (auch den israelischen Erstschlag soll er zunächst abgelehnt haben, bevor er seine Meinung änderte). Trump hat eine noch bessere Idee: Israel und Iran sollen Frieden schließen. Warum nicht? In Trumps Vorstellung ist alles möglich – auch wenn er weder in Gaza noch in der Ukraine Frieden brachte.

Wie reagiert der Iran auf diese Pläne für seine Zukunft? Welche Szenarien erscheinen aus iranischer Sicht realistisch, welche sind reine Fantasie oder Alptraum? Die Wahrheit ist: Bei jedem Thema – Deeskalation, Zukunft des Atomprogramms, mögliche Neuauflage eines Abkommens und Perspektiven eines Regimewechsels – gilt oft sowohl das eine als auch sein Gegenteil. Die Fragen sind ineinander verwoben. Manche nennen das talmudisch oder ausweichend, aber nicht zufällig trägt ein hervorragendes Buch über den Iran den Titel „The Iranian Labyrinth“, während das jüngste Werk des renommierten Iran-Experten Vali Nasr „Iran’s Grand Strategy“ heißt.

Deeskalation – ein Weg, gepflastert mit Blut?
Wird der Iran kapitulieren – Trumps geforderte „totale Unterwerfung“ –, oder weiterkämpfen? Analysten sind sich einig, dass der Iran militärisch unterlegen ist. „Israel besitzt offensichtlich militärische Überlegenheit, und mit der Unterstützung der USA ist ein Gleichgewicht unmöglich“, sagt Negar Mortazavi, Senior Fellow am Center for International Policy in Washington D.C. und Gastgeberin des empfehlenswerten „The Iran Podcast“. Arash Azizi, Autor mehrerer Iran-Bücher (jüngst „What Iranians Want: Women, Life, Freedom“; bald Dozent in Yale), betont ebenfalls die schweren Verluste des Iran.

Ein Szenario: Die Zerstörungen bringen Teheran zu größeren Zugeständnissen in den Gesprächen mit den USA. Iran hat bereits durch inoffizielle Kanäle einen Waffenstillstand signalisiert – etwa über Zypern oder über Golfstaaten. „Sie sehen es als Schlag-und-Gegenschlag. Sobald Israel aufhört, scheinen sie bereit für einen Waffenstillstand und vielleicht zur Rückkehr an den Verhandlungstisch“, so Mortazavi.

Vielleicht finden sogar Israel und Iran zu einer stillschweigenden Übereinkunft. „Das beste Wunsch-Szenario wäre etwas Ähnliches wie 2006 zwischen Israel und der Hisbollah“, sagt ein ranghoher Iran-Experte (anonym). Damals hielten sich beide Seiten bis zum 7. Oktober 2023 weitgehend an einen stillen Waffenstillstand.

Ein besserer Deal
Ein weiteres, nicht schlechtes Szenario: Der Krieg führt zu einem inneren Machtwechsel im Iran, meint Azizi. „Ich sage nicht wahrscheinlich, aber möglich: Eine kapitulationsbereite Fraktion übernimmt und erklärt: ‚Das Spiel ist aus, wir brauchen einen Deal mit Trump.‘“ Doch wie gelangt der Iran dorthin? Der genannte akademische Experte befürchtet, beide Seiten müssten zuvor „blutiger“ werden, um kompromissbereit zu sein – ganz nach Trumps Bemerkung, man müsse es erst „auskämpfen“.

Trump könnte hoffen, die Erschöpfung beider Seiten zu nutzen, um einen für ihn besseren Deal durchzusetzen – eine „faktische Waffenruhe“, die Netanjahu nicht untergräbt. Dann wäre Trump der Friedensbringer, Nobelpreis-würdig.

Lockruf Regimewechsel
Doch selbst dieses Szenario könnte einen Machtwechsel voraussetzen. „Ein interner Putsch“, so Azizi: Ex-Präsident Hassan Rohani übernimmt, Khamenei wird unter Hausarrest gestellt, ein Gremium von Wissenschaftlern schließt ein historisches Atomabkommen mit den USA, erklärt gegenüber Israel eine hundertjährige Waffenruhe – eine Art Hudna.

Begriffe wie „Regimewechsel“ oder Aufruf zum Aufstand können jedoch Albtraumszenarien auslösen. Auch ein interner Umsturz könnte radikalen Kräften die Macht geben, die Israels Angriffe als endgültigen Beweis sehen, dass Iran Atomwaffen braucht. „Sie könnten sagen: ‚Wir müssen sofort die Bombe bauen‘“, warnt Azizi. Opferrolle führt oft zu Aggression, wie Israel selbst weiß.

Netanjahu denkt indes nicht an interne Fraktionen. Er und US-Neokonservative wie John Bolton können den Begriff Regimewechsel nicht lassen. Mortazavi fragt: Will Israel „israelische Stiefel“ auf iranischem Boden? Wie will es ein Land mit 90 Millionen Einwohnern kontrollieren?

Auf eine Volksrevolte zu hoffen, erscheint unrealistisch. „Die iranische Opposition ist nicht organisiert – gar nicht … Wenn 100 nötig wären, um Erfolg zu haben, liegen sie nicht mal bei fünf“, sagt Azizi, selbst Teil einer kleinen Exilpartei älterer Oppositioneller. Auch große Proteste wurden regelmäßig niedergeschlagen. Selbst die Bewegung „Frauen, Leben, Freiheit“, die Netanjahu in seiner Botschaft ansprach, ist weitgehend verpufft: Heute bezahlen schicke Cafés laut dem Akademiker die Sittenpolizei, damit sie hijab-lose Kundinnen in Ruhe lässt. Die Kopftuchfrage wurde für den Staat zur Einnahmequelle.

Wachsende Wut auf Israel
Zu Beginn der israelischen Angriffe hegten manche Iraner noch Sympathien für Israel – aus Abscheu gegen ihr Regime. Doch mit den Einschlägen in Teheran und dem Chaos schwenkt die Stimmung um. „Es sieht für viele aus wie Gaza“, so der Experte. Raketen auf einen TV-Sender verstärkten die Wut. Das nützt dem Regime.

Der schlimmste Fall wäre ein Kollaps des Staates nach Khameneis Tod: Machtvakuum, Milizen, Chaos – „wie im Irak“ oder eine radikalisierte Neuauflage von Hamas, warnt der Experte.

Volksmacht, begrenzt
Nach so viel Blut gibt es keine Silberstreifen, nur weniger Gewalt – oder finsterere Szenarien. Azizi sieht immerhin: Die iranische Bevölkerung war nie grundsätzlich anti-israelisch. Er erinnert an die Kampagne „I ♥ Iran / I ♥ Israel“ von 2012. Es gebe ein Lager für Frieden. Doch jeder Tag Krieg tötet mehr Menschen und vergrößert die Kluft. Je früher er endet, desto besser.