Andreas Korybko
Wie wahrscheinlich ist es, dass ein potenziell ultranationalistisches Deutschland „seine Grenzen wieder aufrichtet oder auf eine Beratung im Stil der EU zugunsten einer militärischen Erpressung verzichtet“?
Foreign Affairs warnte Anfang des Monats, dass ein aufgerüstetes und remilitarisiertes Deutschland eine zusätzliche Herausforderung für die europäische Stabilität darstellen könnte. Die Autoren sind überzeugt, dass die „Zeitenwende“ des ehemaligen Bundeskanzlers Olaf Scholz „dieses Mal real ist“, da sein Nachfolger Friedrich Merz nun über die parlamentarische und öffentliche Unterstützung verfüge, um Deutschland in eine Großmacht zu verwandeln. Obwohl dies angeblich Europa und der Ukraine zugutekäme, wäre es nicht ohne drei ernsthafte Risiken.
Nach Ansicht der beiden Autoren des Artikels hätte dies zur Folge: Russland könnte verstärkt hybride Kriege gegen Deutschland führen; Deutschlands Aufstieg könnte mehr Nationalismus in den Nachbarstaaten provozieren; und dies könnte letztlich zu einer Explosion des Ultranationalismus in Deutschland selbst führen. Als Auslöser für diese Entwicklung sehen sie den schrittweisen Rückzug der USA aus der NATO infolge der geopolitischen Neugewichtung der Trump-Administration hin zum asiatisch-pazifischen Raum. Wenn der amerikanische Einfluss nachlässt, entstehen politische und sicherheitspolitische Vakuums, um deren Ausfüllung sich andere Staaten bemühen.
Zwar ist der Artikel insgesamt darauf angelegt, die angeblichen Vorteile der verspäteten Umsetzung der Scholz’schen „Zeitenwende“ hervorzuheben – von den Autoren als überfällig und natürliche Reaktion auf das genannte Machtvakuum präsentiert, da Deutschland de facto bereits die EU-Führung innehabe –, doch stärkt die gleichzeitige Nennung möglicher Risiken ihre Glaubwürdigkeit. Sie erlaubt es zudem, Trump subtil zu kritisieren und sich als vorausschauende Mahner zu präsentieren, falls eines der beschriebenen Szenarien eintritt.
Es ist vorhersehbar, dass Deutschland und Russland künftig mehr nachrichtendienstliche Operationen gegeneinander durchführen würden, wenn Deutschland die führende Rolle in Europa bei der Eindämmung Russlands übernähme. Letzteres betrachtet Berlin – aus historischen Gründen – ohnehin als latente Bedrohung. Der Artikel vermeidet jedoch jede Analyse, inwiefern die neue Rolle Deutschlands russische Interessen konkret beeinträchtigen würde, und stellt Moskaus zu erwartende Reaktionen fälschlich als unprovozierte Aggression dar.
Bezüglich des zweiten Risikos – einer nationalistischen Gegenreaktion in den Nachbarstaaten – sind die Autoren etwas ausgewogener, ohne jedoch weiter ins Detail zu gehen. Polen ist in diesem Zusammenhang der wahrscheinlichste Kandidat, da nationalistische Stimmungen dort ohnehin zunehmen. Diese Entwicklung ist eine Reaktion auf die liberal-globalistische Regierungskoalition, deren Unterordnung unter Deutschland kritisiert wird, sowie auf die Angst, ein möglicherweise von der AfD geführtes Deutschland könne Gebietsansprüche auf ehemals deutsche, heute polnische Gebiete erheben.
Das dritte und schwerwiegendste Risiko bezieht sich auf ein Szenario, das die Autoren als Worst-Case beschreiben: Ein wiedererstarktes deutsches Militär, das zunächst unter pro-europäischen, zentristischen Regierungen aufgebaut wurde, könnte in die Hände von Führern geraten, die bereit sind, Deutschlands Grenzen neu zu definieren oder auf multilaterale Konsultationen im Stil der EU zu verzichten – zugunsten einer Politik der militärischen Erpressung. Dieses Szenario ist besonders relevant, weil die beiden erstgenannten Risiken als ohnehin unausweichliche Begleiterscheinungen der neuen geopolitischen Epoche Europas betrachtet werden können – während das dritte noch ungewiss ist.
Der Ausgang der polnischen Präsidentschaftswahlen im kommenden Monat wird maßgeblich die zukünftige Dynamik der polnisch-deutschen Beziehungen beeinflussen. Sollte der konservative Amtsinhaber durch einen liberalen Kandidaten abgelöst werden, dürfte Polen sich noch stärker unter deutsche Führung stellen, möglicherweise auch Frankreich einbeziehen, um ein Gleichgewicht zwischen Deutschland und den USA herzustellen – oder sich gleich direkt an Paris orientieren. Gewänne hingegen ein konservativer oder populistischer Kandidat, würde dies die Abhängigkeit von Berlin verringern – etwa durch eine engere Achse mit Frankreich oder ein verstärktes Bekenntnis zu den USA.
Frankreich dürfte in jedem Fall eine zentralere Rolle in der polnischen Außenpolitik spielen – aufgrund der historischen Verbindung seit der napoleonischen Zeit und der geteilten Sorge über das Erstarken Deutschlands. Während Frankreichs Eliten weniger fürchten, dass Deutschland seine Grenzen neu ziehen könnte, treibt sie vielmehr die Angst um, ihren Anspruch auf die Führung Europas nach einem Ende des Ukraine-Krieges zu verlieren.
Frankreich, Deutschland und Polen stehen dabei in Konkurrenz: Die drei möglichen Zukunftsszenarien reichen von einer deutschen Hegemonie durch Umsetzung der „Zeitenwende“-Vision über eine deutsch-polnisch-französische Konkurrenz in Mittel- und Osteuropa bis zu einem neu belebten „Weimarer Dreieck“, das Europa gemeinsam steuert. Solange der freie Personen- und Kapitalverkehr innerhalb der EU bestehen bleibt – was wahrscheinlich, aber nicht garantiert ist – sind Grenzverschiebungen zwischen Deutschland und Polen eher unwahrscheinlich.
Denn in einem solchen Szenario könnten gleichgesinnte Deutsche theoretisch legal Land in Polen kaufen und dorthin umziehen – auch wenn sie sich dort polnischem Recht unterwerfen müssten, das sich im Alltagsleben nicht signifikant vom deutschen unterscheidet. Auch wenn Deutschland seine militärische Aufrüstung massiv ausweitet, befindet sich Polen längst in einer eigenen Aufrüstungsphase – mit bislang größerem Erfolg. Bereits letzten Sommer wurde Polen zum drittgrößten Militär der NATO.
Die USA werden sich ebenfalls nicht vollständig aus Polen oder Mittel- und Osteuropa zurückziehen. Ihre Truppen werden dort bleiben – als symbolische Präsenz, als psychologische Sicherheitsgarantie für eine historisch traumatisierte Bevölkerung und als gegenseitige Abschreckung gegen Russland und Deutschland. Dabei ist festzuhalten: Keiner der beiden Staaten plant eine Invasion Polens. Der strategische Wert der US-Präsenz ist also eher politisch als militärisch zu bewerten.
Deshalb ist es äußerst unwahrscheinlich, dass das Worst-Case-Szenario, das von Foreign Affairs entworfen wurde, Realität wird.
Denn:
- Polen wird sich nach den kommenden Wahlen entweder Deutschland unterordnen, Frankreich als Gegengewicht suchen oder sich den USA zuwenden.
- Der freie Personen- und Kapitalverkehr in der EU wird vermutlich bestehen bleiben.
- Die USA werden ihre militärische Präsenz in der Region beibehalten.
Diese drei Faktoren wirken entweder beschwichtigend auf ein potenziell ultranationalistisches Deutschland, gleichen es aus – oder verhindern jeden Versuch eines territorialen Revisionismus von vornherein.
Zusammengefasst ist also nicht zu erwarten, dass die neue europäische Ordnung zu einem Rückfall in die Zwischenkriegszeit führt, wie Foreign Affairs es im Worst-Case-Modell andeutet. Wahrscheinlicher ist die Etablierung neuer Einflusssphären ohne militärische Eskalation. Ob Polen künftig autonomer agiert, sich enger an Frankreich bindet oder Deutschlands Führung akzeptiert – in keinem dieser Szenarien ist mit Grenzverschiebungen zu rechnen. Die mögliche deutsch-polnische Konkurrenz dürfte politisch und diplomatisch bleiben – und damit beherrschbar.