Die ukrainische Operation Spiderweb hat die Schwelle zur Auslösung einer russischen Nuklearreaktion überschritten. Wie Russland und die Vereinigten Staaten reagieren, könnte das Schicksal der Welt bestimmen.
Scott Ritter
Im Jahr 2012 erklärte der russische Präsident Wladimir Putin:
„Atomwaffen bleiben die wichtigste Garantie für Russlands Souveränität und territoriale Integrität und spielen eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung des regionalen Gleichgewichts und der Stabilität.“
In den vergangenen Jahren haben westliche Analysten und Beobachter Russland und seiner Führung vorgeworfen, die Drohung mit Atomwaffen in unverantwortlicher Weise als „Säbelrasseln“ einzusetzen – ein strategischer Bluff, um operative und taktische Defizite der russischen militärischen Fähigkeiten zu verbergen.
Im Jahr 2020 veröffentlichte Russland erstmals eine nicht klassifizierte Version seiner Nukleardoktrin. In dem Dokument mit dem Titel „Grundprinzipien der Staatspolitik der Russischen Föderation zur nuklearen Abschreckung“ heißt es, dass sich Russland
„das Recht vorbehält, Kernwaffen einzusetzen“,
wenn Moskau
„als Reaktion auf den Einsatz von Kernwaffen und anderen Arten von Massenvernichtungswaffen gegen sich selbst und/oder seine Verbündeten sowie im Falle einer Aggression gegen die Russische Föderation unter Einsatz konventioneller Waffen handelt, wenn die Existenz des Staates selbst gefährdet ist.“
In dem Dokument heißt es ferner, dass Russland sich das Recht vorbehält, Atomwaffen im Falle eines
„Angriffs eines Gegners auf kritische staatliche oder militärische Einrichtungen der Russischen Föderation, deren Störung die Reaktionsmaßnahmen der Nuklearstreitkräfte beeinträchtigen würde“,
einzusetzen.
Im Jahr 2024 ordnete Wladimir Putin eine Aktualisierung der russischen Nukleardoktrin an, um die komplexen geopolitischen Realitäten zu berücksichtigen, die sich aus der laufenden Spezialoperation (SMO) in der Ukraine ergeben hatten – ein Konflikt, der sich in einen Stellvertreterkrieg zwischen dem kollektiven Westen (NATO und USA) und Russland verwandelt hatte.
Die neue Doktrin erklärte, dass Atomwaffen im Falle einer
„Aggression gegen die Russische Föderation und/oder ihre Verbündeten durch einen Nicht-Atomstaat mit Beteiligung oder Unterstützung eines Atomstaates“
eingesetzt werden dürfen – dies werde als gemeinsamer Angriff gewertet.
Russlands nukleares Arsenal würde auch dann zum Einsatz kommen, wenn
„Maßnahmen eines Gegners Elemente der kritisch wichtigen staatlichen oder militärischen Infrastruktur der Russischen Föderation beeinträchtigen, deren Ausschaltung die Reaktionsmaßnahmen der Nuklearstreitkräfte stören würde.“
Die Bedrohungen müssen dabei nicht in Form von Atomwaffen erfolgen. Die neue Doktrin von 2024 erklärt ausdrücklich, dass Russland mit Atomwaffen auf jede Aggression reagieren kann,
„die den Einsatz konventioneller Waffen beinhaltet und eine kritische Bedrohung für die Souveränität und/oder territoriale Integrität Russlands darstellt.“
Operation Spiderweb, ein großangelegter Angriff auf kritische militärische Infrastruktur Russlands, die direkt mit der strategischen nuklearen Abschreckung zusammenhängt, durch unbemannte Drohnen, hat nachweislich Russlands rote Linien überschritten – hinsichtlich einer nuklearen Vergeltung oder eines präventiven Atomschlags, um Folgeschläge zu verhindern.
Der ukrainische Geheimdienst SBU hat unter der persönlichen Leitung seines Chefs Vasyl Malyuk die Verantwortung für diesen Angriff übernommen.
Operation Spiderweb ist eine verdeckte Direktaktion gegen entscheidende militärische Infrastruktur und Kapazitäten Russlands, die direkt mit der strategischen nuklearen Abschreckung verbunden sind.
Mindestens drei Flugplätze wurden mit FPV-Drohnen angegriffen, die aus zivilen Kamaz-Lastwagen, umgebaut zu Drohnenabschussrampen, gestartet wurden:
- Flugplatz Dyagilevo in Rjasan
- Flugplatz Belaya in Irkutsk
- Flugplatz Olenya in Murmansk
Diese Basen beherbergen strategische Bomber des Typs Tu-95 und Tu-22 sowie Frühwarnflugzeuge vom Typ A-50. Bei den Angriffen wurden zahlreiche Flugzeuge zerstört oder schwer beschädigt.
Das wäre das militärische Äquivalent zu Drohnenangriffen eines feindlichen Akteurs auf US-amerikanische B-52H-Bomber auf der Minot Air Force Base in North Dakota und der Barksdale Air Force Base in Louisiana – oder auf B-2-Bomber in der Whiteman Air Force Base in Missouri.
Der Zeitpunkt der Operation Spiderweb ist eindeutig darauf ausgelegt, die für den 2. Juni in Istanbul angesetzten Friedensgespräche zu sabotieren.
Vor allem muss man verstehen: Es ist unmöglich, dass die Ukraine ernsthaft Friedensgespräche vorbereitet, während sie gleichzeitig eine Operation wie Spiderweb plant und durchführt.
Auch wenn die SBU den Angriff ausführte, konnte er nicht ohne das Wissen und die Zustimmung des ukrainischen Präsidenten oder des Verteidigungsministers stattfinden.
Ebenso wenig konnte dieser Angriff ohne die Zustimmung der europäischen Partner der Ukraine erfolgen – insbesondere Großbritannien, Frankreich und Deutschland, die sich in den Wochen vor der Operation in direkter Abstimmung mit Präsident Wolodymyr Selenskyj befanden.
Die Europäer haben die Ukraine ermutigt, sich öffentlich als Unterstützer des Friedensprozesses in Istanbul zu zeigen – mit dem Kalkül, dass im Falle eines Scheiterns Russland die Schuld gegeben würde und nicht die Ukraine. Dies würde es Europa erleichtern, weiterhin militärische und finanzielle Unterstützung zu leisten.
Auch die USA spielen offenbar eine entscheidende Rolle. Die Senatoren Lindsey Graham (Republikaner, South Carolina) und Richard Blumenthal (Demokrat, Connecticut) reisten in der vergangenen Woche gemeinsam in die Ukraine und stimmten sich dort eng mit der Regierung ab. Im Zentrum: ein neues Sanktionspaket, das von der Bereitschaft Russlands abhängig gemacht wird, einem 30-tägigen Waffenstillstand – einer ukrainischen Kernforderung – zuzustimmen.
Operation Spiderweb scheint ein gezielter Versuch zu sein, Russland von den Istanbuler Gesprächen fernzuhalten – entweder durch eine russische Vergeltung, die der Ukraine einen Vorwand liefert, nicht zu erscheinen (und Graham/Blumenthal die gesetzliche Grundlage für neue Sanktionen liefert), oder durch einen russischen Rückzug aus den Gesprächen, was ebenfalls die geplanten Sanktionen der beiden US-Senatoren auslösen würde.
Unklar ist, inwieweit Präsident Trump, der sich öffentlich für einen erfolgreichen Friedensprozess zwischen Russland und der Ukraine einsetzt, über die ukrainischen Aktionen informiert war – einschließlich eines versuchten Drohnenangriffs auf Putin bei dessen Besuch in Kursk. Trump schien davon nichts zu wissen.
Wie Russland auf diese neueste ukrainische Aktion reagieren wird, ist derzeit noch unklar. Die Drohnenangriffe auf russische Militärbasen folgten jedoch unmittelbar auf mindestens zwei ukrainische Angriffe auf russische Eisenbahnlinien, bei denen Lokomotiven und Waggons schwer beschädigt und zahlreiche Zivilisten getötet oder verletzt wurden.
Eines ist jedoch klar:
Die Ukraine hätte Operation Spiderweb niemals ohne die politische Zustimmung und operative Unterstützung ihrer westlichen Verbündeten durchführen können. Die amerikanischen und britischen Geheimdienste haben ukrainische Spezialeinheiten im Guerillakrieg und unkonventionellen Operationen ausgebildet. Es wird angenommen, dass auch frühere Angriffe auf kritische russische Infrastruktur – etwa die Krim-Brücke oder die Luftwaffenbasis Engels – mit US-/UK-Hilfe geplant und durchgeführt wurden.
Tatsächlich wurden diese Angriffe als Auslöser für die Änderungen der russischen Nukleardoktrin im Jahr 2024 betrachtet.
Russland hat in der Vergangenheit auf Provokationen durch die Ukraine und den Westen mit einer Mischung aus Geduld und Entschlossenheit reagiert.
Viele interpretierten dieses Verhalten als Schwäche – was wohl zur Entscheidung der Ukraine und ihrer westlichen Unterstützer beitrug, gerade jetzt eine derart provokante Operation durchzuführen – unmittelbar vor einem entscheidenden diplomatischen Treffen.
Ob Russland weiter mit der bisherigen Zurückhaltung agieren kann, steht nun auf dem Prüfstand – angesichts eines massiven Angriffs mit konventionellen Waffen auf seine strategische nukleare Abschreckungsfähigkeit.
Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass dieselbe Taktik künftig dazu dienen könnte, russische Nuklearwaffen und Führungspersonen zu entmachten – der Drohnenangriff auf Putin ist ein warnendes Beispiel.
Wenn die Ukraine Kamaz-LKWs nahe strategischen Luftwaffenstützpunkten positionieren kann, dann kann sie das auch in der Nähe von mobilen Raketensystemen tun.
Dass die Ukraine solche Angriffe durchführt, zeigt zugleich, dass westliche Nachrichtendienste gezielt testen, wie weit sie im Vorfeld eines möglichen künftigen Krieges mit Russland gehen können – einem Krieg, auf den sich NATO und EU nach eigenen Angaben bereits vorbereiten.
Wir stehen an einem existenzbedrohenden Wendepunkt der Spezialoperation.
Für Russland wurden genau jene roten Linien überschritten, die es für einen möglichen Einsatz von Atomwaffen definiert hat – und zwar nicht nur durch die Ukraine, sondern durch ihre westlichen Unterstützer.
Präsident Trump, der öffentlich einen Friedensprozess unterstützt, muss nun entscheiden, wo die USA angesichts dieser Eskalation stehen.
Sein Außenminister Marco Rubio hat eingeräumt, dass sich die USA unter Joe Biden in einem Stellvertreterkrieg mit Russland befanden. Trumps Sonderbeauftragter für die Ukraine, Keith Kellogg, sagte kürzlich dasselbe über die NATO.
Kurz gesagt: Durch ihre Unterstützung für die Ukraine sind die USA und die NATO nun aktive Teilnehmer an einem Konflikt, der die Schwelle zum Atomkrieg überschritten hat.
Die Vereinigten Staaten und die Welt stehen am Rand eines nuklearen Armageddon, das wir selbst herbeigeführt haben.
Entweder wir distanzieren uns von der Politik, die uns an diesen Punkt gebracht hat,
oder wir akzeptieren die Konsequenzen und bezahlen den Preis dafür.
Wir können nicht in einer Welt leben, in der unsere Zukunft von der Geduld und Zurückhaltung eines russischen Führers abhängt – angesichts von Provokationen, für die wir verantwortlich sind.
Die Ukraine – nicht Russland – ist die existenzielle Bedrohung für die Menschheit.
Nicht Russland, sondern die NATO ist dafür verantwortlich, dass die Ukraine zu solch rücksichtslosen Aktionen ermutigt wurde.
Das gilt ebenso für die Vereinigten Staaten.
Die widersprüchlichen Aussagen amerikanischer Politiker zu Russland liefern der Ukraine und ihren NATO-Unterstützern die politische Deckung, um Operationen wie Spiderweb zu planen und durchzuführen.
Die Senatoren Graham und Blumenthal sollten wegen Volksverhetzung angeklagt werden, wenn ihre Intervention dazu diente, einen Friedensprozess zu sabotieren, den Präsident Trump als zentral für die nationale Sicherheit Amerikas betrachtet.
Aber Trump selbst muss über das Schicksal der Welt entscheiden.
In den kommenden Stunden werden wir zweifellos vom russischen Präsidenten hören, wie Russland auf diese existenzielle Provokation reagieren wird.
Auch Trump muss reagieren.
Indem er Graham und Blumenthal sowie deren Unterstützer auffordert, ihre Russland-Sanktionspolitik einzustellen.
Indem er NATO und EU befiehlt, ihre militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine zu beenden.
Und indem er in der BBS (Black Sea Bloc?) Partei ergreift.
Wählen Sie die Ukraine – und lösen Sie einen Atomkrieg aus.
Wählen Sie Russland – und retten Sie die Welt.
Über den Autor:
Scott Ritter ist ehemaliger Geheimdienstoffizier des US-Marinekorps mit umfassender Erfahrung in der Rüstungskontrolle und ein Experte für die Beziehungen zwischen den USA und Russland. Weitere Arbeiten unter scottritter.com.
Zu seinen Büchern zählt u. a. Highway to Hell: The Armageddon Chronicles, 2014–2025 (Clarity Press).