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Die Nakba von Gaza

Die Nakba von Gaza

Alastair Crooke

„Wir führen jetzt die Nakba von Gaza durch“, sagte Avi Dichter, „Israels“ Landwirtschaftsminister und ehemaliger Chef der Shin Bet. (Anm.d.Ü.: „Nakba“ ist die Vertreibung von 700.000 Palästinensern aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina zwischen 1947 und 1949 – „Shin Bet ist der israelische Inlandsgeheimdienst)

Das israelische Kabinett wurde unterrichtet, dass bis zu 1.700.000 (von einer Gesamtbevölkerung von 2,2 Millionen) nicht mehr in ihren eigenen Häusern leben, entweder durch Vertreibung oder weil ihre Wohnungen zerstört/beschädigt wurden.

Um das Bild vom „vorrückenden“ israelischen Militär mit seiner Operation zur Vernichtung der Hamas zu verbreiten, sehen wir viele Panzer und Schützenpanzer rund um Gaza City – aber bemerkenswert wenige Bilder von zu Fuß patrouillierenden IOF Soldaten. Entweder schützen sie die Panzer, die dem Feuer von Scharfschützen oder Panzerabwehrraketen ausgeliefert sind, oder (so vermuten viele Kommentatoren) aus Frucht vor israelischen Verlusten. (Anm.d.Ü.: IOF steht für „Israelische Besatzungskräfte“, im Gegensatz zu IDF für „Israelische Verteidigungskräfte“)

Rundheraus: „Israel“ hält sich an seine gepanzerten Fahrzeuge, obwohl sie ständig Verluste ihrer Fahrzuge durch Blitzattacken kleiner Trupps von Hamas-Kämpfer hinnehmen müssen, die plötzlich aus versteckten Tunneln auftauchen, um Fahrzeuge zu zerstören – und dann wieder im Untergrund verschwinden.

Die IOF ist in Gaza City eingedrungen, ist innerhalb eines Monats ein paar Kilometer vorgerückt, aber bis jetzt gibt es keine richtigen Beweise für Zusammenstöße mit den Hamas-Kräften, und es wurde auch keine nennenswerte Zahl von ihnen eliminiert. Warum?

Einfach ausgedrückt: Die Israelis kämpfen einen konventionellen Krieg (eine bewaffnete „Faust“ dringt unter massiver Luftunterstützung langsam vorwärts). Aber der Widerspruch bei diesem Modell ist ganz offensichtlich: Der sogenannte „Feind“ vor Ort ist die Zivilbevölkerung, die in schrecklicher Anzahl stirbt, während die Hamas-Kräfte intakt bleiben, tief im Untergrund. Und dort liegt auch die Infrastruktur der Hamas.

Die inneren Widersprüche bei diesem Ansatz liegen in der Evolution der IOF über die Jahrzehnte, die quasi zu einer kolonialen Polizeitruppe geworden ist, die daran gewöhnt ist, die Besatzung mit den beiden Vektoren aus massiver Gewalt und der Projektion von absoluter Gewalt zu verwalten. Es ist kein Geheimnis, dass die IOF fürchtet, sich der Hamas im Nahkampf mit Feuerwaffen in den Tunnelkomplexen zu stellen (darin sind ihre Soldaten nicht trainiert). Also sehen wir eine Parade an gepanzerten Fahrzeugen an der Oberfläche, zusammen mit größtenteils unbelegten Behauptungen der IOF, sie hätten der Hamas Schaden zugefügt.

Der offensichtlichste Widerspruch ist die Behauptung des israelischen Kabinetts, dass der fast nicht vorhanden militärische Druck auf Hamas die Konditionen für eine Freilassung der Geiseln erzeugt. Während der echte Druck – die unablässigen Luftschläge – die Zivilbevölkerung und die Infrastruktur (Krankenhäuser, Schulen, Bäckereien und Flüchtlingslager) verwüstet, eine zweite Nakba ermöglicht – mehr als jede Geiselbefreiung.

Vielleicht wird Hamas weitere Geiseln freigeben (unter Beachtung ihrer strategischen Ziele). Das wird wahrscheinlich – fälschlicherweise – als Schwäche der Hamas interpretiert werden. Folglich könnte man zu dem Schluss kommen, dass Flächenbombardierung Wirkung zeigt. Wie Zvi Bar`el in der liberalen Tageszeitung Haaretz schreibt:

Nach israelischer Auffassung ist die humanitäre Krise Teil eines Arsenals, über das Israel verfügt und das nicht nur als Druckmittel bei Verhandlungen über die Freilassung von Geiseln eingesetzt werden kann. Ihre Rolle besteht darin, den Palästinensern jene apokalyptische Strafe einzubläuen, die jedem droht, der es von nun an wagt, Israel herauszufordern.

Dies ist eine Fortsetzung des tief verwurzelten strategischen Konzepts, wonach humanitäres Leid sicherheitsrelevante Gewinne bringen könnte …

Noch wichtiger ist, dass die humanitäre Krise in Gaza Israel nun ein diplomatisches Druckmittel in die Hand gibt, um Zugeständnisse zu erlangen … Vor allem aber bedeutet sie eine Entschärfung der amerikanischen Eile, eine Zweistaatenlösung zu erreichen.“

Die unausweichliche Logik dieser Analyse besteht also darin, den Status quo beizubehalten: Wenn es nicht funktioniert, Geiseln freizulassen oder die Hamas zu dezimieren, kann man der israelischen Öffentlichkeit vorgaukeln, dass es „funktioniert“, wenn man die Zivilbevölkerung zwingt, aus ihren zerstörten Gemeinden zu fliehen (was Avi Dichter die „Nakba von Gaza“ nennt).

Wenn die „Nakba-Doktrin“ greift, schmelzen die günstigen Bedingungen für die Freilassung der Geiseln (die die Hamas von einem langen Waffenstillstand und humanitären Lieferungen abhängig macht) dahin. Die IOF kann entweder das eine oder das andere haben: Entweder kontinuierliche Zerstörung oder Bedingungen für die Freilassung von Geiseln. (Wie es scheint, hat sich das Kabinett für Ersteres entschieden.)

Das andere (tiefgreifendere) Dilemma besteht darin, dass der internationale Druck für einen Waffenstillstand (und die Freilassung der Geiseln) immer größer wird. Die Zeit ist knapp, und die Militäroperation muss möglicherweise eingestellt werden. Für das Kabinett Netanjahu stellt sich die Frage, ob die Massaker an der Zivilbevölkerung und der Druck einer Nakba in Gaza wieder aufgenommen werden können, sobald sie beendet wurden.

In diesem Zusammenhang kippt die Stimmung der israelischen Bevölkerung – sogar bei ehemaligen Liberalen – zugunsten einer größeren Nakba. Gaza ist unter dem Druck einer Nakba. So wie das Westjordanland, wo die Gewalt der Siedler gegen Palästinenser zunimmt. Sogar ein „Liberaler“ wie der ehemalige Oppositionsführer Lapid stimmt jetzt zu, dass die „Siedler“ im besetzten Westjordanland gar keine „Siedler“ seien, da dieses Land nichts anderes als „das biblische Land von Israel“ sei.

Die Nakba-Ambitionen weiten sich auch nach Südlibanon aus (bis zum Fluss Litani). Die radikalen Mitglieder in Netanyahus Regierung sagen, dass Israelis nie in die Kibbutze an der Grenze zu Libanon zurückkehren würden, wenn nicht die Hisbollah aus dem Grenzgebiet vertrieben wird.

So wird der Ruf laut, „Israel“ solle den Libanon bis zum Litani (einer wichtigen Wasserquelle) „einnehmen“ – und „zufälligerweise“ hat die israelische Luftwaffe begonnen, bis zu 40 km innerhalb des Libanon zu operieren. Kabinettsmitglieder sprechen jetzt offen davon, dass die IOF ihre Aufmerksamkeit auf die Hisbollah richten muss, sobald die Hamas „ausgelöscht“ ist.

An der Nordgrenze wird es unweigerlich heißer. Die Hisbollah setzt ihre immer ausgefeilteren und tödlicheren Waffen gegen IOF-Stellungen im Norden „Israels“ ein, während die „Einsatzregeln“ ständig verschwimmen. Und „Israel“ antwortet mit Angriffen, die sich immer tiefer in den Südlibanon verlagern (angeblich, um die rückwärtige Infrastruktur der Hisbollah zu treffen).

Gestern Abend stimmte das israelische Kriegskabinett dafür, der Hisbollah einen schweren Schlag zu versetzen – doch Netanjahu zögert. Berichten zufolge vermuten die USA, dass „Israel“ die Hisbollah provoziert, in der Hoffnung, die USA zu einem Krieg gegen den Libanon zu verleiten. (Anm.d.Ü.: Und dann könnte auch der Iran verwickelt werden)

Das Weiße Haus ist offensichtlich bemüht, das Abgleiten in einen umfassenden regionalen Krieg zu verhindern, da sich sowohl die libanesische als auch die irakische Front aufheizt: Am Sonntag feuerten irakische Bewegungen erneut Raketen auf den amerikanischen Stützpunkt in Shaddadi.

„Israel“ empfindet die gegenwärtige Krise als existenzielles Risiko, aber auch als „Chance“ – eine Chance, „Israel“ auf lange Sicht in „seinen biblischen Ländern“ zu etablieren. Man sollte sich nicht irren – das ist die Richtung, in die sich die israelische Volksstimmung bewegt, sowohl vom linken als auch vom rechten Flügel, hin zu einer blutigen Eschatologie.

Wie ein prominenter israelischer Kommentator schrieb, nachdem er den (unbegründeten) 47-minütigen IOF-Film über die Ereignisse vom 7. Oktober gesehen hatte:

„Nachdem ich den Film gesehen habe, habe ich kein Mitleid mit irgendeinem Menschen in Gaza, nicht mit einer Frau, nicht mit einem Kind und schon gar nicht mit einem Mann. Jeder verdient einen schmerzhaften Tod, Sie alle waren mitschuldig an diesem Massaker. Ich hoffe, dass in Gaza niemand mehr am Leben bleibt, Punkt! … Ich bin mir sicher, dass euer Gott euch verachtet, sich für euch schämt und euch in der Hölle verbrennen würde, so wie es die IDF jetzt mit euch tut.“

Der „Stamm der Amalekiter“ wird heute häufig zitiert. (König Saul befiehlt Samuel im ersten Buch Samuel, alle Amalekiter zu töten: „Verschone sie nicht; töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel“).

Mit dem biblischen Stimmungsumschwung der Israelis steigt auch der Zorn der weltweiten Mehrheit. Und so sehen die Muslime die Krise als einen kompromisslosen zivilisatorischen Krieg – der Westen gegen „uns“.

Die beiden parallel stattfindenden Konferenzen der Arabischen Liga und der OIC (die gleichzeitig in Riad stattfanden) unterstrichen den völligen Zusammenbruch des Bildes von „Israel“ in der islamischen Welt. Die Wut und Leidenschaft, die sich dabei entlud, waren deutlich spürbar und verändern die neue Weltpolitik.

Im Westen zersplittert die Wut die politischen Strukturen des Mainstreams und verursacht eine breite Erschütterung. Die weltweiten Proteste sind massiv.

Und während sich „Israel“ einem biblischen „Großisrael“ zuwendet, wird die islamische Welt zunehmend kompromissloser. Obwohl sich die Konferenzen nicht auf einen Aktionsplan einigen konnten, waren die Bilder von Präsident Raisi neben MbS und von Präsident Erdogan mit Assad doch beeindruckend.

Die strategische Konsequenz ist eindeutig: Die Israelis lehnen die Risiken eines Zusammenlebens mit den Muslimen ab, und die Palästinenser erwidern diese Haltung gegenüber dem hebräischen Fanatismus voll und ganz. Das alte Weltbild einer politischen Lösung ist obsolet geworden.