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Pepe Escobar: Die Schöne Neue Welt der Cancel Culture
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Pepe Escobar: Die Schöne Neue Welt der Cancel Culture

Pepe Escobar asiatimes.com

Wenn wir ein Datum brauchen, an dem es im Westen ernsthaft schief zu laufen begann, so lasst uns mit Rom im frühen 5. Jahrhundert beginnen

Im Jahr 2020 sahen wir die Verherrlichung des Techno-Feudalismus – eines der übergreifenden Themen meines neuesten Buches, Raging Twenties.

In Windeseile metastasierte der Techno-Feudalismus-Virus in eine noch tödlichere, wild spiegelnde Variante, in der die Cancel Culture von Big Tech in allen Bereichen durchgesetzt wird. Wo Wissenschaft in den sozialen Medien routinemäßig als Fake News entwertet und der Durchschnittsbürger bis zum Punkt der Lobotomie verwirrt wird.

Giorgio Agamben hat dies als einen Neuen Totalitarismus definiert.

Der hochkarätige politische Analyst Alastair Crooke hat versucht, eine scharfe Aufschlüsselung der breiteren Konfiguration vorzunehmen.

Geopolitisch gesehen würde der Hegemon sogar auf einen 5G-Krieg zurückgreifen, um seine Vormachtstellung aufrechtzuerhalten, während er eine moralische Legitimation durch die “Woke Revolution” sucht, die er ordnungsgemäß in seine westlichen Satrapien exportiert.

Die “Woke Revolution” ist ein Kulturkrieg – in Symbiose mit Big Tech und Big Business – der das wahre Ding zerschlagen hat: den Klassenkampf. Die atomisierte Arbeiterklasse, die ums nackte Überleben kämpft, wurde in der Anomie gelassen. (Anm.d.Ü.: Anomie = ein Zustand fehlender oder schwacher Normen, Regeln und Ordnung)

Das große Allheilmittel, eigentlich die ultimative “Chance”, die von Covid-19 angeboten wird, ist der von Herrn Schwab in Davos vorgeschlagene “Great Reset”: im Wesentlichen der Ersatz einer schwindenden Produktionsbasis durch Automatisierung, in Verbindung mit einem Reset des Finanzsystems.

Das begleitende Wunschdenken sieht eine Weltwirtschaft vor, die sich “einem saubereren kapitalistischen Modell annähert“. Eines der Merkmale ist ein herrlich wohlwollendes Gremium für integrativen Kapitalismus in Partnerschaft mit der katholischen Kirche.

So wie die Pandemie – die “Chance” für den Reset – durch das Event 201 im Oktober 2019 trainiert wurde, so gibt es bereits weitere Strategien für die nächsten Schritte, wie z. B. das Cyber Polygon, das vor den “Schlüsselrisiken der Digitalisierung” warnt. Verpassen Sie nicht deren “technische Übung” am 9. Juli, bei der “die Teilnehmer in Echtzeit ihre praktischen Fähigkeiten bei der Entschärfung eines gezielten Supply-Chain-Angriffs auf das Ökosystem der Konzerne verfeinern werden.”

Ein neues Konzert der Mächte?

Souveränität ist eine tödliche Bedrohung für die laufende Kulturrevolution. Das beunruhigt die Rolle der Institutionen der Europäischen Union – insbesondere der Europäischen Kommission – die nichts unversucht lässt, um die nationalen Interessen der Nationalstaaten aufzulösen. Und das erklärt weitgehend und in unterschiedlichem Ausmaß, wie Russophobie, Sinophobie und Iranophobie in eine Waffe verwandelt werden.

Der grundlegende Essay in “Raging Twenties” analysiert die Lage in Eurasien genau im Hinblick auf den Hegemon, der gegen die drei Souveräne – Russland, China und Iran – antritt.

In diesem Rahmen wurde zum Beispiel kürzlich im US-Senat ein massiver, mehr als 270 Seiten starker Gesetzentwurf – der Strategic Competition Act – verabschiedet. Er geht weit über den geopolitischen Wettbewerb hinaus und entwirft einen Fahrplan für den Kampf gegen China im gesamten Spektrum. Er wird mit Sicherheit Gesetz werden, denn China-Feindlichkeit ist ein parteiübergreifender Sport in D.C.

Hegemon-Orakel wie der ewige Henry Kissinger machen zumindest eine Pause von ihrem üblichen “Teile und Herrsche”-Getue, um davor zu warnen, dass die Eskalation des “endlosen” Wettbewerbs in einen heißen Krieg entgleisen könnte – vor allem in Anbetracht von KI und den neuesten Generationen intelligenter Waffen.

An der glühenden US-Russland-Front, wo Außenminister Sergej Lawrow den Mangel an gegenseitigem Vertrauen, ganz zu schweigen von Respekt, als viel schlimmer als während des Kalten Krieges ansieht, stellt der Analyst Glenn Diesen fest, dass der Hegemon “danach strebt, die sicherheitspolitische Abhängigkeit der Europäer in geoökonomische Loyalität umzuwandeln”.

Das ist der Kern einer “Make-or-Break”-Saga: Nord Stream 2. Der Hegemon setzt jede Waffe ein – einschließlich des Kulturkriegs, bei dem der verurteilte Gauner Nawalny eine wichtige Rolle spielt – um ein Energieabkommen zum Scheitern zu bringen, das für Deutschlands industrielle Interessen unerlässlich ist. Gleichzeitig wächst der Druck auf Europa, keine chinesische Technologie zu kaufen.

In der Zwischenzeit wird die NATO – die über die EU herrscht – über das Projekt NATO 2030 als globaler Robocop aufgebaut – selbst nachdem sie Libyen in eine von Milizen beherrschte Einöde verwandelt hat und ihr kollektiver Hintern in Afghanistan auf demütigende Weise versohlt wurde.

Bei allem Schall und Rauch der Sanktionshysterie und der Deklination des Kulturkriegs ist das Hegemon-Establishment nicht gerade blind dafür, dass der Westen “nicht nur seine materielle Dominanz, sondern auch seine ideologische Vormachtstellung verliert”.

So schlägt der Council on Foreign Relations – in einer Art Bismarck’schem Kater – nun ein Neues Konzert der Mächte vor, um mit “wütendem Populismus” und “illiberalen Versuchungen” fertig zu werden, die natürlich von jenen bösartigen Akteuren wie dem “kämpferischen Russland” ausgehen, die es wagen, “die Autorität des Westens herauszufordern”.

So sehr dieser geopolitische Vorschlag auch in wohlwollende Rhetorik gekleidet sein mag, das Endspiel bleibt dasselbe: die “Wiederherstellung der US-Führung”, zu US-Bedingungen. Verdammt seien diese “Illiberalen” Russland, China und Iran.

Crooke führt genau ein russisches und ein chinesisches Beispiel an, um zu illustrieren, wohin die erwachte Kulturrevolution führen kann.

Im Fall der chinesischen Kulturrevolution war das Endergebnis Chaos, angefacht von den Roten Garden, die unabhängig von der kommunistischen Parteiführung begannen, ihr eigenes, besonderes Chaos anzurichten.

Und dann ist da noch Dostojewski in “Die Besessenen”, der zeigt, wie die säkularen russischen Liberalen der 1840er Jahre die Voraussetzungen für die Entstehung der 1860er Generation schufen: ideologische Radikale, die darauf aus waren, das Haus niederzubrennen.

Keine Frage: “Revolutionen” fressen immer ihre Kinder. Es beginnt meist damit, dass eine herrschende Elite ihre neu gefundenen platonischen Formen anderen aufzwingt. Denkt an Robespierre. Er formulierte seine Politik auf sehr platonische Weise – “der friedliche Genuss von Freiheit und Gleichheit, die Herrschaft der ewigen Gerechtigkeit” mit Gesetzen, die “in die Herzen aller Menschen eingraviert sind”.

Nun, als andere mit Robespierres Vision der Tugend nicht einverstanden waren, wissen wir alle, was geschah: der Terror. Genau wie Platon es übrigens in den Gesetzen empfahl.

Es ist also fair zu erwarten, dass die Kinder der Woke-Revolution schließlich von ihrem Eifer lebendig aufgefressen werden.

Aufhebung der Meinungsfreiheit

So wie es aussieht, kann man darüber streiten, wann der “Westen” anfing, ernsthaft schief zu laufen – im Sinne einer Cancel Culture. Erlaubt mir die zynisch-soziale Sichtweise eines globalen Nomaden des 21. Jahrhunderts.

Wenn wir ein Datum brauchen, lasst uns mit Rom beginnen – dem Inbegriff des Westens – im frühen 5. Jahrhundert. Folgt dem Geld. Das ist die Zeit, in der die Einkünfte aus dem Besitz von Tempeln an die katholische Kirche übertragen wurden – und damit ihre wirtschaftliche Macht stärkten. Gegen Ende des Jahrhunderts wurden sogar Schenkungen an Tempel verboten.

Parallel dazu war ein Zerstörungswahn im Gange – angeheizt durch den christlichen Ikonoklasmus (Bildersturm), der von in heidnische Statuen eingemeißelten Kreuzen bis zu in Kirchen umgewandelten Badehäusern reichte. Nackt baden? Quelle horreur!

Die Verwüstung hatte es in sich. Eine der wenigen Überlebenden war die fabelhafte Bronzestatue des Marcus Aurelius zu Pferd auf dem Campidoglio/Kapitolinischen Hügel (heute ist sie im Museum untergebracht). Die Statue überlebte nur, weil der fromme Mob dachte, der Kaiser sei Konstantin.

Das urbane Gefüge Roms wurde zerstört: Rituale, der Sinn für Gemeinschaft, Singen und Tanzen. Wir sollten uns daran erinnern, dass die Menschen immer noch ihre Stimmen senken, wenn sie eine Kirche betreten.

Jahrhundertelang hörten wir die Stimmen der Enteigneten nicht. Eine krasse Ausnahme findet sich in einem Text eines athenischen Philosophen aus dem frühen 6. Jahrhundert, zitiert von Ramsay MacMullen in Christianity and Paganism in the Fourth to Eight Centuries.

Der griechische Philosoph schrieb, dass die Christen “eine in jeder Leidenschaft aufgelöste Rasse sind, zerstört durch kontrollierte Selbstverliebtheit, kriechend und weibisch in ihrem Denken, der Feigheit nahe, sich in allen Schweinereien suhlend, entwürdigt, zufrieden mit der Knechtschaft in Sicherheit.”

Wenn das wie eine Proto-Definition der westlichen Cancel Culture des 21. Jahrhunderts klingt, dann ist das so.

Auch in Alexandria war es ziemlich schlimm. Ein christlicher Mob tötete und zerstückelte die verführerische Hypatia, Mathematikerin und Philosophin. Das beendete de facto die Ära der großen griechischen Mathematik. Kein Wunder, dass Gibbon die Ermordung der Hypatia zu einem bemerkenswerten Versatzstück in Decline and Fall of the Roman Empire machte (“In der Blüte ihrer Schönheit und in der Reife ihrer Weisheit lehnte die bescheidene Jungfrau ihre Liebhaber ab und unterwies ihre Schüler; die durch ihren Rang oder Verdienst berühmtesten Personen waren ungeduldig, die Philosophin zu besuchen”).

Unter Justinian – Kaiser von 527 bis 565 – wurde das Heidentum mit aller Härte bekämpft. Eines seiner Gesetze beendete die kaiserliche Duldung aller Religionen, die seit Konstantin im Jahr 313 in Kraft war.

Wer heidnisch war, sollte sich auf die Todesstrafe gefasst machen. Heidnische Lehrer – vor allem Philosophen – wurden verbannt. Sie verloren ihre parrhesia: ihre Lizenz zum Lehren (hier die brillante Analyse von Foucault).

Parrhesia – frei übersetzt als “freimütige Kritik” – ist ein ungeheuer ernstes Thema: Nicht weniger als tausend Jahre lang war dies die Definition der Redefreiheit (Kursivschrift von mir).

Da haben wir es: In der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts, als die Meinungsfreiheit im Westen abgeschafft wurde.

Der letzte ägyptische Tempel – zu Ehren der Isis, auf einer Insel im Süden Ägyptens – wurde 526 geschlossen. Die legendäre Platon-Akademie – mit nicht weniger als 900 Jahren Lehre in ihrem Lehrplan – wurde 529 in Athen geschlossen.

Ratet mal, wohin sich die griechischen Philosophen ins Exil begaben: nach Persien.

Das waren die Tage – im frühen 2. Jahrhundert – als der größte Stoiker, Epiktet, ein freigelassener Sklave aus Phrygien, Bewunderer sowohl von Sokrates als auch von Diogenes, von einem Kaiser, Hadrian, konsultiert wurde; und er wurde das Vorbild eines anderen Kaisers, Marcus Aurelius.

Die Geschichte zeigt uns, dass die griechische intellektuelle Tradition im Westen nicht einfach verblasste. Sie war Ziel der Cancel Culture.