Wissenschaft im Widerspruch: Warum wiederholte Grippeimpfungen ihre Wirksamkeit verlieren können
Zwei große Studien stellen die jährliche Impfstrategie infrage – und offenbaren, dass der Schutz sogar ins Gegenteil umschlagen kann. Hier und hier.
Jedes Jahr beginnt im Herbst dieselbe Kampagne: Gesundheitsbehörden rufen zur Grippeimpfung auf. Besonders ältere Menschen, Pflegekräfte und Menschen mit chronischen Erkrankungen sollen sich „jährlich schützen“. Doch zwei der bedeutendsten Studien der letzten Jahre zeichnen ein deutlich komplexeres – und beunruhigenderes – Bild.
Forscher aus Kanada und Italien berichteten im Journal of Infectious Diseases (Skowronski et al., 2017), dass die Wirksamkeit der Grippeimpfung bei wiederholter Anwendung deutlich sinkt – und in manchen Jahren sogar negativ sein kann. Eine Metaanalyse von Ramsay et al. (2019) bestätigte: Wiederholte Impfungen zeigen inkonsistente Ergebnisse, die je nach Saison, Virusvariante und individueller Impfgeschichte stark schwanken.
Wenn Schutz zur Schwäche wird
Die kanadisch-italienische Studie untersuchte Daten aus fünf Grippesaisons zwischen 2010 und 2015. Die Wissenschaftler stellten fest, dass Menschen, die mehrere Jahre hintereinander geimpft wurden, häufiger an Grippe erkrankten als jene, die nur in einem Jahr geimpft waren.
Die Forscher erklärten dieses Phänomen mit der sogenannten Antigenic-Distance-Hypothese: Wenn der Impfstoff des Vorjahres und der aktuelle Impfstoff zu ähnlich sind, das Virus selbst sich jedoch stark verändert hat, kann das Immunsystem auf die alten Antigene reagieren – und die neuen Varianten nicht effektiv bekämpfen.
Kurz gesagt: Die wiederholte Impfung kann das Immunsystem „fehlprägen“.
„Wir fanden Belege für eine negative Interferenz, besonders in Saisons mit stark veränderten H3N2-Stämmen“, schreiben Skowronski und Kollegen.
„Personen, die in aufeinanderfolgenden Jahren geimpft wurden, hatten ein signifikant höheres Risiko für laborbestätigte Influenza als einmalig Geimpfte.“
Die Metaanalyse: Schutz nur unter günstigen Bedingungen
Eine systematische Übersichtsarbeit von Ramsay et al. (2019), die mehr als 30 Studien auswertete, kam zu einem ähnlichen Schluss:
Die Effektivität wiederholter Grippeimpfungen schwankt drastisch. In manchen Jahren bietet sie kaum Schutz, in anderen moderat (30–60 %). Doch besonders bei Influenza A(H3N2) zeigen sich negative Effekte – also eine höhere Erkrankungsrate unter wiederholt Geimpften.
Die Autoren warnen, dass solche Ergebnisse nicht ignoriert werden dürfen:
„Die wiederholte Influenza-Impfung kann unter bestimmten antigenischen Bedingungen die Wirksamkeit verringern. Diese Dynamik muss bei Impfempfehlungen berücksichtigt werden.“
Gesundheitspolitik im Autopilot-Modus
Trotz dieser Erkenntnisse halten Gesundheitsbehörden weltweit an ihrer Linie fest: „Jährliche Impfung für alle Risikogruppen“. Die öffentliche Kommunikation vermittelt, dass Wiederholungsimpfungen stets sicher und wirksam seien. Dabei zeigen die Daten, dass die Immunreaktion individuell und kontextabhängig ist – und die „Einmal-pro-Jahr“-Routine wissenschaftlich kaum begründbar bleibt.
Einige Experten fordern bereits ein Umdenken in der Impfstrategie: Statt pauschaler Kampagnen brauche es gezieltere Empfehlungen, die Virusentwicklung, Impfstofftyp und Immunhistorie berücksichtigen.
Fazit
Die Forschung zeigt:
- Grippeimpfungen können schützen, aber nicht jedes Jahr und nicht bei jedem.
- Wiederholte Impfungen können die natürliche Immunität stören und in bestimmten Jahren kontraproduktiv wirken.
- Die pauschale Empfehlung „jährlich impfen“ ignoriert diese komplexen Wechselwirkungen.
Solange die öffentliche Gesundheitskommunikation diese wissenschaftlichen Unsicherheiten verschweigt, bleibt die jährliche Grippekampagne mehr Ritual als evidenzbasierte Medizin.


