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Warum es die Taliban gerade auseinander reißt
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Warum es die Taliban gerade auseinander reißt

Der unter dem Namen Arg bekannte Amtssitz des afghanischen Präsidenten befindet sich inmitten einer mehr als 80 Hektar großen Parklandschaft. Die Anlage hat die Vierfache Größe des Areals, auf dem das Weiße Haus steht und ist noch immer mehr als doppelt so groß als das Gelände des Buckingham Palace. Viel Glück brachte der späten 18. Jahrhundert errichtete Repräsentativbau seinen Bewohnern nicht. Die meisten davon fanden innerhalb der dicken Palastmauern, die architektonisch einer antiken Festung nachempfunden wurde, einen gewaltsamen Tod.

Szenen jedoch wie jene, die sich Anfang diesen Monats nach dem Besuch von Generalleutnant Faiz Hameed als dem Chef des berüchtigten pakistanischen Geheimdienstes ISI abgespielt hatten, gab es auch im Arg nur sehr selten. Hameed reiste nach Kabul, um der neuen Talibanregierung den Willen Pakistans aufzudrängen. Mit seinem persönlichen Besuch stellte er sicher, dass sämtliche Schlüsselpositionen des neuen Regimes an pakistanische Loyalisten gingen, von denen die meisten dem fundamentalistischen Haqqani-Netzwerk angehören. Für all jene, die in Doha an den Verhandlungen beteiligt waren, war dies gleichbedeutend mit einer Degradierung.

Größter Verlierer des pakistanischen Eingriffs war Mullah Baradar, von dem allgemein erwartet wurde, dass er die Regierung führen würde, nun aber lediglich mit einer Stellvertreterrolle betraut wurde. Baradars hatte die Absicht, die vielen ethnischen Minderheiten Afghanistans in die Regierung des Landes mit aufzunehmen und war auch dafür, die bislang verwendete grün-rot-schwarze afghanische Nationalflagge weiterhin neben der weißen Talibanflagge zu hissen.

Bei einem Treffen der Talibanführung im Arg flammten die Gemüter auf, nachdem es zu der unerwarteten Kursänderung kommen sollte, wobei es zu einer handfesten Auseinandersetzung zwischen seinen Anhängern und denen von Khalil Haqqani gekommen sein soll. Mit Teekannen und Möbelstücken sollen die Kontrahenten aufeinander geworfen haben. Nicht bestätigt werden konnten Gerüchte, wonach es sogar zu einem Schusswechsel gekommen sein soll.

Säuberungen in der Führungsebene

Nach dem Streit im Arg verschwand Baradar für einige Tage und tauchte später in Kandahar wieder auf, wo er bis heute verweilt. Er hielt dort ein großes Treffen der Stammesältesten ab, die ihn sich auch hinter ihn stellten, gleichzeitig jedoch trat er auch im staatlichen Fernsehsender auf, der von den Taliban übernommen wurde, und verlas dort eine Erklärung. Darin bekannte er seine Loyalität gegenüber den Taliban, allerdings erinnerte der Auftritt eher an ein Geiselvideo.

Trotz dieser sehr öffentlichen Dissonanzen auf der Führungsebene seiner Organisation bleibt der eigentliche Anführer der Taliban Haibatullah Akhunzada weiterhin von der Bildfläche verschwunden. Von ihm wurde seit einiger Zeit nichts mehr gesehen oder gehört, laut zahlreichen Gerüchten soll er sogar tot sein. Akhunzadas Abwesenheit verursachte jenes Vakuum an der Spitze, in dem es überhaupt erst zu den hitzigen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Fraktionen innerhalb der Taliban kommen konnte.

Im Vergleich dazu geschah dies unter dessen Vorgänger Mullah Omar nicht. Dessen Wort stets Gesetz war, auch wenn er selbst nie Kabul erreichte. Nominell steht momentan zwar Mullah Hassan Akhund an der Spitze, doch er hat keine wirkliche Macht. Folglich ist niemand dazu in der Lage, das Netzwerk von Haqqani zu zügeln kann, deren öffentliche Erklärungen in keinster Weise zur sonst bekannten Linie der Taliban passen.

Pakistan, Heimat des gewalttätigen Extremismus

In der Vergangenheit wurde das öffentliche Bild der Taliban durch Baradar und andere von Doha aus koordiniert. Über mehrere Jahre hinweg versuchten sie, die Taliban als eine gemäßigte nationalistische Bewegung darzustellen, die auf ihre Gelegenheit zur Bildung einer verantwortungsvollen Regierungwarteten. Sirajuddin Haqqani und sein Onkel Khalil dagegen begannen schon kurz nach der Machtübernahme damit, in öffentlichen Erklärungen Selbstmordattentäter und den Wert des internationalen Dschihad zu preisen.

Worin auch immer die Versprechen der Taliban gegenüber der US-Regierung bestanden haben mögen, als die beiden Seiten die Zeit nach dem Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan verhandelt hatten, so gibt es zumindest bei Kahlil Haqqani keine Zweifel über dessen Verbindungen zum internationalen Terrorismus. Unter anderem die UN klagt über ihn, dass er „im Namen von Al-Qaida gehandelt hat und in Verbindung zu ihren militärischen Operationen stand“.

Das Haqqani-Netzwerk ist tief in den Sicherheitsapparat Pakistans eingebettet. Ihre ideologischen Überzeugungen verdanken sie der „Universität des Dschihad“, der Darul Uloom Haqqania Madrasa, die in günstiger Lage zwischen der pakistanischen Hauptstadt Islamabad und den Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan liegt. Seit dem Talibangründer Mullah Omar absolvierten viele Kader der Taliban die Kurse dieser Madrasa.

Afghanistan, das neues alte Terrornest

Es ist schwer vorherzusagen, wie Pakistan seine neue Macht in Afghanistan gestalten wird. Seit der sowjetischen Invasion vor mehr als vierzig Jahren werkelten sie unablässig daran, in dem westlichen Nachbarland jene Macht zu erlangen, über die sie jetzt verfügen. Pakistans Engagement in Afghanistan hat etwas von einem Hund, der unter Aufbringung all seiner Energie einem Auto hinterher rennt und am Ende nicht weiß, was er damit soll, wenn er es einholt. Ende der 1990er Jahre anerkannten neben Pakistan nur Saudiarabien und die Arabischen Emirate die erste Talibanherrschaft über Afghanistan. Dieses Mal allerdings scheinen sie sich dabei Zeit lassen zu wollen.

In einer Rede vor der Konferenz der Shanghai Cooperation Organization in dieser Woche beispielsweise zückte Pakistans Premier Imran Khan wieder einmal die Opferkarte. Er meinte, Pakistan habe in der Region von allen die schlimmsten Angriffe durch grenzüberschreitenden Terrorismus hinnehmen müssen. Für all jene, die um Pakistans Rolle bei der Gründung von Terrororganisationen speziell für Anschläge in Indien wissen, oder die sich über die neuerliche Bedrohung Kaschmirs durch das Haqqani-Netzwerk bewusst sind, sind solche Ausagen nichts als der reine Hohn.

Noch sind die Machtkämpfe innerhalb der neuen afghanischen Regierung nicht vorüber, so dass für den Moment ungewiss bleibt, wer am Ende wirklich die Macht haben wird. Was der Richtungsstreit dagegen mit aller Deutlichkeit offenlegt, ist die Instabilität des neuen Regimes. Sie macht es schwer sich vorzustellen, dass die künftige Regierung dazu in der Lage sein wird, das komplexe Land zu regieren.