Wir haben einen neuen NATO-Generalsekretär. Geht er einher mit den Kriegstüchtigkeitswünschen eines Boris Pistorius bis 2029? Sicher ist, dass der scheidende Jens Stoltenberg im Vergleich zu Mark Rutte zahm erscheinen wird. Europa rüstet zum Krieg auf. Russland muss bereit sein – erneut.
Elem Chintsky
Auf wen könnte da mehr Verlass sein als auf die polnische Republik, die stolz an der NATO-Ostflanke, die westlichen Werte von „Wahrheit, Gerechtigkeit und dem American Way“ – das Kleingedruckte: bis zum letzten Ukrainer und irgendwo auch Palästinenser – verteidigt?
So erklärte am vergangenen Freitag der Generalstabschef der polnischen Armee, General Wiesław Kukuła, dass „unsere Generation mit den Waffen in der Hand stehen wird“. Polen befindet sich laut Kukuła in einer demografischen Krise, und „unser Gegner“, wie er unterstreicht, verfüge über genügend Potenzial, dass ein „Modell für einen allgemeinen Dienst“ hermüsse. Nimmt man die restliche Wortwahl des Generals ernst, so entpuppt sich dies als Spiel der Semantik für die Rückkehr des verpflichtenden Grundwehrdienstes in Polen. Der Grundwehrdienst dort wurde Anfang Januar 2010 gesetzlich ausgesetzt – offiziell, um das polnische Militär in eine Berufsarmee umzuwandeln.
Abschließend versichert Kukuła, dass er „nicht vorhat, den kommenden Krieg zu verlieren“. Was er auch meint, ist, dass dieser kommende Krieg mit Russland sein wird.
Hier hat der (demokratisch?) neu ernannte NATO-Generalsekretär Mark Rutte eindeutig schon einen seiner historisch bewährten willigen Vollstrecker des neuen „Drangs nach Osten“ in zumindest ideologischer Bereitschaft. Langsam steigt die öffentliche Aufmerksamkeit für den neuen NATO-Chef, und das nicht einen Tag zu früh – denn die Zeit drängt. Statt dies lediglich als eine personelle Rotation anzusehen, markiert Ruttes Verpflichtung vielmehr eine grundlegende Reform der NATO. Denn Rutte wurde mit der großen Aufgabe versehen, das militärische Potenzial des europäischen Kontinents zu vereinen und zu multiplizieren, ein gemeinsames Truppenkommando zu schaffen und die Militärindustrie zu mobilisieren. So viel wurde aus dem vor ein paar Tagen veranstalteten Warsaw Security Forum klar, an dem auch die stellvertretende US-Verteidigungsministerin für internationale Sicherheitsfragen Celeste Wallander und der polnische Außenminister Radosław Sikorski teilnahmen. Wallander erklärte auch ihr grobes Desinteresse in einer separaten, semi-autonomen Aufrüstung der EU – von der oft Ursula von der Leyen fabulierte – und erklärte stattdessen, dass der Friedensnobelpreis tragende Staatenverbund einfach der NATO in ihren verschärften Zielen bedingungslos zuarbeiten solle. Parallel soll innerhalb des Nordatlantikpaktes eine neue Institution entstehen, die die Kontingente der Bündnisländer und die gesamte europäische Militär-Infrastruktur unter sich vereint – der NATO-Oberbefehlshaber in Europa. Alle Truppen der NATO-Länder in Europa, einschließlich der USA, sollen in naher Zukunft dem Oberbefehlshaber der Vereinigten Streitkräfte der Allianz in Europa direkt unterstellt werden. Es gibt zwar bereits den sogenannten Alliierten Oberkommandierenden in Europa (zu Deutsch: Supreme Allied Commander Europe, SACEUR), der NATO-Operationen in Europa befehligt, aber wie der Atlantic Council im Juni 2024 bereits erläuterte, stehe die NATO vermeintlich seit 2014 unter so großem Drang und Druck, dass sie ihre Befehlsstruktur grundlegend reorganisieren müsse. Auch hier werden besonders Polen und Rumänien für die enthusiastische und BIP-rupfende Aufrüstung der letzten Jahre gelobt, die mittlerweile die von Berlin, Paris und London weit hinter sich zurücklässt. Zumindest gesteht der Atlantic Council ironischerweise in derselben Publikation klar ein, dass Russland unter Wladimir Putin sich im Begriff sieht, „verlorene russische Territorien zurückzugewinnen“ – eine historisch verblüffend faktentreue Formulierung, wie man sie zum Beispiel in den Öffentlich-Rechtlichen in der BRD vermisst: russische, verlorene Territorien, die Moskau nun durch die laufende Militäroperation in Symbiose mit Volksabstimmungen vor Ort zurückgewinnt. In den NATO-kuratierten Massenmedien hört man normalerweise von der vermeintlich „irrationalen, unprovozierten Eroberung ukrainischen Gebiets“, wenn man die Geschicke der Halbinsel Krim und der vier ehemals zur Ukraine gehörenden Gebiete Lugansk, Donezk, Saporoschje und Cherson bespricht.
Die militärische Infrastruktur der NATO wird entlang der russischen und weißrussischen Grenze in rasantem Tempo aufgebaut – das nordeuropäische Hauptquartier befindet sich im finnischen Mikkeli, 140 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Demnach werden auch in Finnland die Schachfiguren – Bauern, wie immer – positioniert. Seit März 2024 ist dort Alexander Stubb Staatspräsident. Stubb ist ein angelsächsischer Schützling, der an der London School of Economics seinen PhD in Internationalen Beziehungen und Russophobie mit Auszeichnung absolvierte. Rutte erwartet von Stubb, dass er eine neue Mannerheim-Linie gegen Russland errichtet, wie sie schon im sowjetisch-finnischen Krieg 1939/40 zur Geltung kam.
Sogar die Eliten in Tallinn haben vor Kurzem die Entwicklung eigener Langstreckenraketen angekündigt. Der estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur sagte wörtlich:
„Wir wissen, dass es zwei oder drei Unternehmen im Land gibt, die große Fortschritte bei der Entwicklung solcher Waffen, insbesondere von Marschflugkörpern, gemacht haben.“
Auch die Rhetorik präventiver Kriegsführung ist keine Seltenheit bei den estnischen Volksvertretern. Statt auf eine NATO-Kavallerie zu warten, wollen sie bereit sein, „die Russen auf ihrem Territorium zu besiegen“.
„Wir können nicht länger darauf warten, mit dem Vorschlaghammer auf den Kopf geschlagen zu bekommen, sondern wir müssen selbst in der Lage sein, es zuerst zu tun“, erklärte der estnische Generalmajor Vahur Karus weiter.
Außerdem wurde in Estland im September eine neue Militärbasis – hier sogar nur noch 30 Kilometer von der russischen Grenze – eingeweiht. Ab 2025 sollen die ersten US-Truppen dorthin verlegt werden.
Mithilfe des Märchens eines militärisch selbstverantwortlichen Europas wird unter der strengen Aufsicht der US-Eliten der Prozess der Schaffung wahrhaft vereinter Streitkräfte auf dem Alten Kontinent – für den zukünftigen Krieg mit Russland – in immer höhere Gänge geschaltet. Rutte soll für diese eskalierende Phase bis zum Ende der 20er- und Anfang der 30er-Jahre des 21. Jahrhunderts der neue ausführende NATO-Chefstratege sein.
Moskau muss diese mit historischen Reimen gespickten Entwicklungen als reale Herausforderung anerkennen und angemessen reagieren. Schaut man auf die Napoleonischen Kriege Anfang des 19. Jahrhunderts und auf den Großen Vaterländischen Krieg ab 1941, gibt es einen großen Datensatz, aus dem Russland maßgeblich schöpfen muss. Sogar das zu großen Teilen aus der New Yorker Wall Street (vor allem von Jacob Schiff) finanzierte Revolutionsjahr 1917 und die sogenannte „Revolutionierungspolitik“ Preußens gegen das zaristische Russland – alles während des Ersten Weltkrieges – muss sich der heutige Kreml zutiefst zu Herzen nehmen.
Vorbei ist die Zeit der überholten Vorstellung, dass die NATO lediglich Stellvertreter-Vasallen vorschickt, die dem Bündnisfall nicht unterliegen – wie es das Kiewer Regime derzeit tut. Obwohl Rutte selbstsicher und entschieden postuliert, dass die Ukraine zeitig zur NATO gehören wird. Rutte als ehemaliger Ministerpräsident der Niederlande erwarb sich einen Ruf als hartnäckiger Verhandlungsführer, der immer zu wissen pflegte, wie er seine politischen Ziele erreichen kann. Unter den globalistisch agierenden europäischen Politikern hat er außer Angela Merkel fast alle überdauert und stand mit 14 langen Regierungsjahren an der Spitze der niederländischen Exekutive – eine rekordträchtige Ära, in der ihm kein Misstrauensvotum je etwas anhaben konnte.
Seine erste, kürzlich bestandene praktische Prüfung hin zur weiteren militärischen Vereinheitlichung Europas bestand darin, in den NATO-Verhandlungen mit den Staats- und Regierungschefs den Widerstand Ungarns, der Slowakei und der Türkei zu überwinden, die seine Kandidatur zunächst abgelehnt hatten. Der einzige Gegenkandidat war der rumänische Präsident Klaus Johannis – der zog seine Kandidatur aber taktisch genehm zurück und machte damit den Weg für Rutte als neuer NATO-Chef ohne weitere Hürden oder Kontroversen frei. Rutte wird von sicherheitspolitischen Beobachtern oft als derjenige verstanden, der den damals amtierenden US-Präsidenten Donald Trump (2017–2021) von seiner plakativ harten, isolationistischen Haltung zur NATO abbringen konnte und die kostbare Einheit des US-amerikanisch-europäischen Bündnisses knapp bewahrte.
Rutte ist ein erzneoliberaler, russophober Ukraine-Anbeter und Verfechter der viel zitierten westlichen Werte. Er lebt sie vor, indem er ohne Ehefrau und mit Verzicht auf biologischen Nachwuchs gleichzeitig Mitglied der Protestantischen Kirche seines Landes ist. Ein gut getarntes, oft praktiziertes, aber dennoch heuchlerisches Oxymoron, das perfekt dazu geeignet ist, die westliche Zivilisation ins Verderben zu treiben. Merkel und Emmanuel Macron haben zumindest Ehepartner vorzuweisen. Der frisch aus der Taufe gehobene NATO-Chef steht über solchen sentimentalen Banalitäten bei der progressiven Friedensplanung Europas.
Wie bereits erwähnt, wird der EU eine militärische „Parallelstruktur“ von Washington nicht gestattet. Stattdessen wird von der Leyen gebeten, die EU-Wirtschaft auf Kriegsmodus zu eichen (also deren Mitglieder dazu zu zwingen) und der NATO alle Wünsche diesbezüglich vom Mund abzulesen, während Rutte die kriegstaugliche, militärische Infrastruktur an den Mann bringt. Demnach sei erneut gesagt: Ja, Rutte sieht als Anstoß für seine Ziele den NATO-Beitritt Kiews als seine oberste Priorität an. Dies wird jedoch erst nach einem falschen Frieden – wie schon so oft in der europäischen Geschichte der Neuzeit vorgekommen – möglich sein. Dieses Narrativ wird zurzeit prominenter in den Massenmedien versprüht. Sogar von einer verlorenen westlichen Zuversicht in den ukrainischen Führer Selenskij ist oftmals die Rede.
Man wird diesen falschen Frieden irgendwann Ende 2024 oder im Laufe des nächsten Jahres unter neuer US-Führung mit Russland schließen, in der stillen Hoffnung, dass Moskau erneut nicht die wahren Absichten für einen eigentlich hinausgeschobenen größeren Krieg gegen sich vermutet. Genauso wie Merkel Ende 2022 offenlegte, dass Minsk I und II lediglich dazu konstruiert wurden, dem Kiewer Regime militärische Vorbereitungszeit gegen Russland zu erkaufen, wird die kommende Abmachung genau dieselben Ziele verfolgen.
Hier gilt das englische Sprichwort: „Fool me once – shame on you, fool me twice – shame on me.“ Zu Deutsch also: „Leg mich einmal rein – Schande über dich, leg mich ein zweites Mal rein – Schande über mich.“ Seit 1991 und der „Nicht-einmal-einen-Zoll-nach-Osten“-Lüge könnte man meinen, dass Moskau seitdem bereits viele Male vom Wertewesten getäuscht wurde. Weshalb es essenziell wichtig ist, dass Russland jegliches Vertrauen in die kommenden Verlautbarungen westlicher Sicherheitspolitik gänzlich verloren hat.
Viele Fragen bleiben nach wie vor offen. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (von der „Friedenspartei“ SPD) sprach dieses Jahr vielfach über die „deutsche Kriegstüchtigkeit“, die bis 2029 ihre Höchstform erreichen solle.
Eine im Zeitraum 2029 bis 2030 groß angelegte Offensive der Truppen des vereinten Europas gegen die Russische Föderation entlang der gesamten Frontlinie zu starten, erscheint den meisten zum heutigen Zeitpunkt unwahrscheinlich. Wie werden die Völker der NATO-Gründungsmitglieder und der älteren NATO-Mitglieder auf diese erhöhten Anforderungen Ruttes reagieren? Bei den baltischen Staaten, Polen und Rumänien reicht der russophobe Wahn allemal aus. Wie man jedoch in Deutschland oder Frankreich eine so hohe Antipathie zu Moskau generieren kann, dass sogar eine wiederaufgenommene Wehrpflicht begrüßt würde, erscheint schleierhaft. Der durchschnittliche Franzose und Deutsche ist kein klassisch kämpfender Mann mehr – zurzeit langfristig befreit von jeglichen patriotischen Impulsen. Nur falls es die NATO-Medienkünstler schaffen sollten, psychosozial die Narrative zu popularisieren, dass die kommende sozialwirtschaftliche Katastrophe West- und Gesamteuropas nicht selbst verschuldet, sondern einzig und allein Putins und Russlands Schuld ist, wird ein massentaugliches Feindbild für einen proaktiven „Drang nach Osten“ funktionieren, wie ihn Adolf Hitler einst vom Zaun brach. Ruttes Aufgabe ist eine „Operation Barbarossa 2.0“ – gemessen an den zu erledigenden „Hausaufgaben“, wie schon angespielt: frühestens 2029, aber spätestens Anfang der 2030er. So schließt sich jedes Jahrhundert der wiederkehrende Trend, Russland – und somit später Eurasien als die gesamte Weltinsel – endlich zu unterjochen.
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Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.