Unabhängige Analysen und Informationen zu Geopolitik, Wirtschaft, Gesundheit, Technologie

Die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi (Kalifornien), trifft sich mit dem israelischen Außenminister Yair Lapid auf dem Capitol Hill in Washington, 12. Oktober 2021, mit einem Siegel auf einem Podium im Vordergrund. Andrew Harnik | AP

Alle Option liegen auf dem Tisch: USA bereiten sich auf Intervention in Äthiopien im Stil von Libyen vor

Auch wenn viele am Horn von Afrika sicherlich Hilfe benötigen, so entspricht die Vorstellung der Biden-Administration von „Hilfe“ sicher nicht dem, was ihnen vorschwebt.

Addis Abeba, Äthiopien – Inmitten eines blutigen Bürgerkriegs und wachsender Großmacht-Konkurrenz zwischen den USA und China gibt es alarmierende Anzeichen dafür, dass Äthiopien das nächste Libyen werden könnte – ein afrikanisches Land, in dem die USA militärisch intervenieren unter dem Vorwand, einen bevorstehenden Völkermord zu verhindern.

Aktuell werden die militärischen Kräfte beachtlich verstärkt. Letzte Woche kündigte das US-Militär an, mehr als 1.000 Angehörige der Nationalgarde in das nahegelegene Dschibuti zu entsenden [1]. Zusätzlich zu den bereits im November entsandten Spezialeinheiten [2]. Gegenüber CNN berichtete ein Regierungsbeamter insbesondere, dass der Flugzeugträger USS Essex – zusammen mit zwei großen Amphibienfahrzeugen – in Richtung Horn von Afrika unterwegs ist und auf weitere Befehle wartet [3].

Über Wochen sind die Kriegstrommeln in unseren Medien lauter geworden. „Äthiopiens Bürgerkrieg ist ein Problem, bei dessen Lösung US Truppen helfen können“, schrieb Admiral James Stavridis, ehemaliger Oberbefehlshaber der NATO (SACEUR), sowohl auf Bloomberg [4] als auch in der Washington Post [5]. „Friedenstruppen in das zentrale Land Ostafrikas zu entsenden wäre innenpolitisch nicht populär, aber es wäre vielleicht der einzige Weg, um einen Konflikt zu beenden“, fügte er hinzu. Gleichzeitig sprach sich die frühere Leiterin der Unterabteilung für Afrika im US-Außenministerium, Jendayi Frazer, dafür aus, dass der Westen eine „Flugverbotszone“ über Äthiopien einrichten sollte [6] – einem Land mit 115 Millionen Einwohnern und der doppelten Fläche Frankreichs.

Was Äthiopien angeht, sagt die USAID-Chefin Samantha Power, eine der Architektinnen der Intervention in Libyen, liegen „alle Optionen auf dem Tisch“ [7] – ein Ausdruck, der schon seit langem als Kriegsdrohung verstanden wird [8]. Auch Außenminister Antony Blinken wollte auf direkte Nachfrage die Entsendung von Truppen nach Äthiopien nicht ausschließen [9].

In Anbetracht ihrer blutigen Geschichte bereitet die Diskussion über eine „humanitäre“ Invasion vielen Äthiopiern Sorgen. „Die USA suchen nach einem Vorwand für ein militärisches Eingreifen in Äthiopien. Dabei wird auf die Drehbücher für Interventionen im Irak, in Syrien, Jugoslawien und Libyen zurückgegriffen“, sagte Dr. Berhanu Taye, ein äthiopischer Arzt und Mitglied des Global Ethiopian Advocacy Nexus [10], gegenüber MintPress.

Die Verstärkung der Militärpräsenz erfolgt, nachdem wirtschaftliche Maßnahmen bereits eingeleitet wurden. Im September bezeichnete Präsident Joe Biden Äthiopien als eine Gefahr für die nationale Sicherheit und erließ Sanktionen gegen Regierungsbeamte. Letzten Monat verhängten die USA auch Sanktionen gegen Eritrea [11], dessen Truppen ebenfalls erheblich an den Kämpfen gegen die Tigray People’s Liberation Front (TPLF) beteiligt sind.

Das Weiße Haus hält gegenwärtig über eine Viertelmilliarde Dollar an Hilfsgeldern für Äthiopien zurück [12]. Außerdem wurde der handelsrechtliche Sonderstatus aufgehoben, unter dem Äthiopien Güter frei in die USA exportieren durfte. Kritiker sagen, dass dies die bereits angeschlagene Wirtschaft zum Absturz bringen könnte und mehr als eine Millionen Arbeitsplätze gefährdet.

In dieser Woche haben bereits einige westliche Regierungen (auch die der USA) eine Erklärung unterzeichnet, in der die äthiopische Regierung für Menschenrechtsverletzungen im Kampf gegen die TPLF verurteilt wird [13], während die TPLF nicht getadelt wurde. Es gibt Berichte, dass das US-Außenministerium erwägt, die äthiopischen Aktionen als „Völkermord“ einzustufen [14]. Dieses Wort hätte erhebliche Konsequenzen, da die NATO mit ihrer Doktrin des „Rechts zur Verteidigung“ für sich selbst beansprucht, überall auf der Welt eingreifen zu dürfen, um ethnische Säuberungen zu beenden.

Ein Jahr tödlicher Kämpfe

An Eritrea und den Sudan grenzend ist Tigray Äthiopiens nördlichste Region mit ca. 7 Millionen Einwohnern. Obwohl ethnische Tigray nur 6% der Bevölkerung Äthiopiens ausmachen [15], spielen sie im öffentlichen Leben eine übergroße Rolle, da die TPLF von 1991 bis 2018 das gesamte Land kontrollierte, bevor sie durch öffentliche Proteste von der Macht verdrängt wurde.

Tigray waren in den oberen Rängen der Militärs und Geheimdienste des Landes allgegenwärtig und auch in der wirtschaftlichen Elite des Landes deutlich überrepräsentiert. Für Dr. Taye stellte das eine Art informelles „Apartheid“-System dar, das vom Großteil des Westens ignoriert wurde. MintPress hat auch einen Sprecher der TPLF kontaktiert, erhielt jedoch keine Antwort.

Seit Abiy Ahmed, der neue Premierminister, 2018 an die Macht kam, hat er eine Reihe von Änderungen gegen die TPLF eingeleitet. Unterstützer sehen diese als dringend benötigte Reformen an, um die Korruption und den Griff nach der Vormacht der TPLF im öffentlichen Leben zu verringern. Gegner sehen darin jedoch eine Überschreitung seiner Machtbefugnisse und die Verfolgung einer ethnischen Minderheit.

Die Tigray-Kriegskarte Stand Juli 2021 zeigt die ENDF-Streitkräfte, TPLF-Streitkräfte, unabhängige Amhara-Streitkräfte (mit Äthiopien verbündet) und Eritrea. (Quelle Wikimedia Commons)

Der kriegsauslösende Funke sprang im November 2020 über, als Ahmed versuchte, Offiziere, die der TPLF angehören, ihrer militärischen Kommandos zu entheben. Die TPLF wehrte sich, indem sie das Hauptquartier des Northern Command in Mekelle, der Hauptstadt der Tigray-Region, angriff. Im selben Monat beschoss die TPLF auch Asmara, die Hauptstadt Eritreas. Während die TPLF Berichten zufolge näher an die Hauptstadt Addis Abeba heranrückte, haben sich eine Reihe von Sportstars des Landes, z.B. Langstreckenläufer Haile Gebrselassie, freiwillig zum Militärdienst auf Seiten der Regierung gemeldet [16].

Seitdem dauern die Kämpfe an; nur im Sommer gab es einen einseitigen Waffenstillstand der Regierung, um die Ernte des Landes nicht zu ruinieren [17]. Nichtsdestotrotz sind die menschlichen Verluste extrem hoch. Mehr als 9 Millionen Menschen leben in den Konfliktgebieten – nach Angaben der UN leiden ca. 400.000 von ihnen an Hunger [18]. Zehntausende sind in diesem Konflikt bereits gestorben, in dem Gräueltaten auf allen Seiten dokumentiert wurden. Die bereits hohe Zahl der Vertriebenen ist weiter gestiegen und wird nun auf 4 Millionen geschätzt [19].

Die TPLF hält an ihrer Behauptung fest, dass die äthiopische Regierung internationale Hilfskonvois daran hindere, Tigray zu erreichen und fordert Premierminister Abiys Rücktritt. Aber Abiy hatte dieses Jahr einen erdrutschartigen Wahlsieg errungen und war erst im Oktober inauguriert worden. Obwohl es offensichtliche Missstände bei der Durchführung der Wahl gab (z. B. fand in Kriegszonen wie Tigray keine Abstimmung statt), ist es schwer, das Erringen von 90% der zur Abstimmung stehenden Sitze nicht als nationales Mandat zu verstehen.

Der verteufelnde Chor der Medien

Daher ist dieser Konflikt letztendlich der Kampf zweier politischer Kräfte um die Kontrolle über die Wirtschaft Äthiopiens. Die Konzernmedien stellen die Sachlage jedoch überhaupt nicht so dar, sondern deuten sie als Auslöschung einer ethnischen Minderheit durch die Regierungen Äthiopiens und Eritreas. CNN schrieb zum Beispiel:

„Eritreische Truppen arbeiten nicht nur Hand in Hand mit der äthiopischen Regierung zusammen und unterstützen sie bei der gnadenlosen Kampagne gegen das Volk der Tigray; in manchen Gebieten haben sie selbst die volle Kontrolle und führen eine Schreckensherrschaft … [die] die Kennzeichen von Völkermord trägt und das Potential hat, die Region am Horn von Afrika großflächig zu destabilisieren.“

Die New York Times verfolgt in vielen ihrer Berichte eine ähnliche Linie. Sie schlagen sich auf die Seite der TPLF und beschreiben ihre Kameraden als „eine rauflustige Truppe lokaler Tigray Rekruten“, die entgegen allen Erwartungen „auf den Schlachtfeldern eine ganze Reihe von Siegen gegen das äthiopische Militär errungen hat, das zu den stärksten Afrikas zählt“. [21]

Viele Äthiopier haben diese Darstellung kritisiert. Dr. Kassahun Melesse, ein äthiopischer Wirtschaftswissenschaftler an der Oregon State University, merkte an:

„Vom Framing mal ganz zu schweigen, machen die Massenmedien schon einen Fehler bei der grundlegendsten Tatsache über diesen militärischen Konflikt: dem Datum, an dem der militärische Konflikt zwischen den Äthiopischen Streitkräften und der TPLF begann. Die New York Times zum Beispiel gibt in praktisch allen ihren Berichten an, die föderale Regierung hätte den Krieg am 4. November 2020 begonnen. Und weil die Medien diese grundlegende Tatsache falsch wiedergeben, sind alle wesentlichen Theorien und das Framing falsch, die auf dieser Annahme basieren.“

Dr. Taye war sogar noch deutlicher. „Westliche Massenmedien erfinden Lügen und verbreiten Desinformation, die die äthiopische Regierung verteufeln sollen“, sagte er.

Ein Beispiel von Voreingenommenheit, auf das Pro-Abiy Äthiopier hingewiesen haben, ist das offensichtliche Reinwaschen des angeblichen Einsatzes von Kindersoldaten durch die TPLF seitens der Times. Darauf vermutlich Bezug nehmend beschreibt die Times die TPLF hauptsächlich als aus „hoch motivierten jungen Rekruten“ bestehend [22]. Noch belastender ist, dass der Co-Autor des Artikels auf Instagram eine Serie von (inzwischen gelöschten) Bildern geteilt hatte, um die Geschichte zu promoten. Eines von ihnen zeigte nicht nur Kinder, sondern offensichtlich vorpubertäre Jungs mit Gewehren, die in der Bildunterschrift wohl als „hoch motivierte junge Rekruten“ beschrieben wurden.[23] Die TPLF beharrt darauf, keine Kindersoldaten einzusetzen.

Leider werden viele, die das Narrativ der etablierten westlichen Medien in Frage stellen, von den sozialen Medien ausgeschlossen. Das betrifft auch große Nutzerkonten – wie @HornofAfricaHub [24], Simon Tesfamariam (@Stesfa [25]) und Abdirahiman Warsame (@SomalianFacts [26]) – manche davon hatten einige Millionen Follower. Die äthiopische Journalistin Hermela Aregawi beklagt, dass Martha Wolday, Senior Program Manager bei Twitter [27] und selbst eine Tigray, ihre Position dafür auszunutzen schien, Anti-TPLF und Pro-Abiy Stimmen zu verbieten und den gegen die Intervention gerichteten Hashtag #NoMore zu unterdrücken [28].

Libyen: Eine Warnung der Geschichte

Auf dem Höhepunkt des Arabischen Frühlings im Jahre 2011 kam es in ganz Libyen zu Demonstrationen gegen Muammar al-Gaddafi. Gaddafi war dem Westen schon immer ein Dorn im Auge, da er sich weigerte, Anweisungen zu befolgen und versuchte, die arabische und afrikanische Welt gegen die etablierte Ordnung zu vereinen. Westliche Nationen sahen ihre Chance gekommen und begannen sofort davor zu warnen, dass der Diktator kurz davor stünde, ein Massaker unter denen anzurichten, die gegen seine Herrschaft protestieren. Sofort waren die Medien voller reißerischer und falscher Geschichten darüber, dass Gaddafi seinen Soldaten Viagra gäbe, bevor er sie Demonstranten vergewaltigen lässt [29]. Sofern man den Berichten glauben wollte, standen wir am Rande eines Völkermordes.

Das von der New York Times inzwischen gelöschte Foto der Minderjährigen mit Waffen. Bezeichnet als „hoch motivierte junge Rekruten“ (Quelle: Twitter)

Zu den lautesten Stimmen, die eine militärische Antwort verlangten, gehörten in der Obama-Ära Beamte wie Samantha Powers und Susan Rice. Sie beriefen sich dabei auf die Doktrin des „Rechts zur Verteidigung“, die aussagt, dass die NATO überall auf der Welt eingreifen dürfe, um Verletzungen der Menschenrechte zu verhindern.

Das Interesse der Medien an Menschenrechten in Libyen stieg ins Unermessliche, erreichte seinen Höhepunkt Mitte März zur Zeit der Intervention, bevor es dann ins Bodenlose stürzte und – Daten von Google Trends zufolge – im Jahrzehnt danach kaum mehr diskutiert wurde [30]. Trotz des Propaganda-Blitzkriegs blieben die Amerikaner vehement gegen eine militärische Intervention [31]. Daher verkaufte man es der Öffentlichkeit anfangs als einfache „Flugverbotszone“ über dem Land, um libysche Flugzeuge daran zu hindern, Truppen zu bombardieren, von denen wir jetzt wissen, dass sie von den USA unterstützte Jihadisten waren.

Natürlich eskalierte die NATO-Intervention schnell sehr weit über eine Flugverbotszone hinaus, änderte den Kriegsverlauf und half den angeschlagenen Jihadisten, Tripolis einzunehmen und Gaddafi abzusetzen. Seither ist Libyen in Chaos versunken und übersät mit Sklavenmärkten, auf denen man Menschen für gerade mal 400 Dollar kaufen kann [32]. Heute sind Rice und Power wieder am Ruder und es gibt bereits ernsthafte Gespräche über die Schaffung einer Flugverbotszone am Horn von Afrika. Für viele Äthiopier fühlen sich die Dinge ähnlich beunruhigend an wie 2011.

USA legitimiert den TPLF-Aufstand

Die Tigray Volksbefreiungsfront (TPLF) kam 1991 nach einem langen, blutigen Konflikt gegen die Militärregierung von Mengistu Haile Mariam an die Macht. Derselbe Konflikt führte schließlich zur Unabhängigkeit Eritreas von Äthiopien.

Während ihrer 27 Regierungsjahre hat sich die TPLF selbst mit dem Staat verwoben und Angehörige der Volksgruppe der Tigray nehmen im ganzen Land hohe Positionen ein. In dieser ganzen Zeit war Äthiopien ein loyaler Verbündeter der USA, ganz im Gegensatz zum marxistisch-leninistischen Mengistu. Äthiopien half den USA dabei, die Ziele ihrer Außenpolitik in der Region umzusetzen. Diese Unterstützung führte dazu, dass die USA bei vielen Unmäßigkeiten ein Auge zudrückte. 2015 z.B. hat Präsident Barack Obama die Wahlen im Land, bei denen die TPLF-Koalition 100% der Sitze gewann, als legitim bekräftigt [33], und das Außenministerium bezeichnete Äthiopien als „Demokratie“ [34]. Das stand ganz im Gegensatz zur Organisation Human Rights Watch, die angab, dass das Land „für Leute, die sich gegen Regierungspolitik äußern oder die die Einhaltung von Menschenrechten untersuchen bzw. unterstützen wollen, einer der menschenfeindlichsten Orte der Welt“ sei [35] und darauf hinwies, dass die TPLF tausende politischer Gefangener in den nationalen Gefängnissen eingesperrt hat.

Melesse sagte, dass die USA – indem sie es ablehnte, sich formal für eine Seite zu entscheiden, entweder für eine gewählten Regierung oder für eine Gruppe, die von ihr als Terrororganisation eingestuft wurde – den Kampf der TPLF praktisch legitimiert habe. Weiter führt er aus, dass diese Position unter anderem auch „auf die Rückkehr mehrerer Beamter der Obama-Ära – die mit den Anliegen der Rebellen in Tigray sympathisieren – in das Außenministerium, zu USAID und in andere Regierungsbehörden“ zurückzuführen sei. Dies ist einer der Gründe für „die fehlgeleitete Sichtweise des US-Außenpolitik-Establishments, das Unterstützung für die Menschen in Tigray mit Unterstützung für die TPLF gleichsetzt“.

Im November traf sich die TPLF mit neun Gruppen der politischen Opposition in Washington, wo sie eine Übereinkunft unterschrieben, dass sie zusammenarbeiten wollen, um Abiy abzusetzen und eine eigene Gegenregierung zu bilden. „Als Antwort auf die schwere Krise, der sich mehrere Völker des Landes gegenüber sehen, und um die schädlichen Auswirkungen rückgängig zu machen, die Abiy Ahmeds autokratische Herrschaft auf unsere Völker und darüber hinaus hat, haben wir die dringende Notwendigkeit erkannt, zusammenzuarbeiten und unsere Kräfte für einen sicheren Übergang im Land zu bündeln“, sagte ein Sprecher den versammelten Reportern [36]. Dass das Ereignis in Washington stattfand, hatte eine Symbolkraft, die man kaum übersehen konnte.

Die [äthiopische] Regierung feuerte zurück und machte geltend, dass sie nicht nur gegen die TPLF Krieg führe, „sondern auch gegen den Kolonialismus mächtiger Staaten des Westens“ [37].

Bahnstrecke Addis Abeba–Dschibuti (Wikimedia Commons)

US „Hilfe“ unerwünscht

Im Hintergrund spielt auch der größere geopolitische Kampf zwischen den USA und China eine Rolle in diesem Konflikt. Im Rahmen der „Neuen Seidenstraße“, einem langfristigen Plan für die Entwicklung Afro-Eurasiens, das wirtschaftlich näher an China rücken soll, hat Peking massiv in ganz Afrika investiert, wobei Äthiopien zu den Top-Empfängern chinesischer Investitionen gehört. Zwischen 2000 und 2018 hat sich Äthiopien 13,7 Milliarden Dollar von China geliehen [38], im Vergleich dazu nur 9,2 Milliarden von den USA. Das meiste Geld ist in gigantische Infrastrukturprojekte geflossen oder in die Entwicklung der äthiopischen Produktion.

Chinesisches Geld hat dabei geholfen, seit dem Jahr 2000 mehr als 50.000 km neue Straßen zu bauen, inklusive einer 86 Millionen Dollar Ringstraße für Addis Abeba [39]. Mit ihm wurden auch die 475 Millionen Dollar für lokale Bahnstrecken in der Hauptstadt finanziert und die 750 km lange Eisenbahnstrecke von Addis Abeba nach Dschibuti, die die Transportzeiten von 3 Tagen auf 10 Stunden reduziert hat und den Handel deutlich beleben wird [40]. Der von China gebaute Hafen von Dschibuti entwickelt sich schnell zu einem der modernsten und geschäftigsten Handelszentren der Welt.

Wenn man durch die Straßen von Addis Abeba geht, sieht man genau so häufig chinesische wie amerikanische Marken. Es werden deutlich mehr Smartphones von Huawei und Tecno verkauft als von Apple [41]; auch Infinix und Itel werden den kalifornischen Riesen wohl bald überholen. China hat mit Äthiopien dutzende von Vereinbarungen unterzeichnet und damit erreicht, dass es nach den gängigsten Maßstäben der größte Import- und Exportpartner des Landes wird. Zurzeit sind mehr als 10.000 chinesische Firmen im Land wirtschaftlich aktiv [42].

Der große Verlierer dabei ist die USA, die schon vor langem als größter wirtschaftlicher Partner Äthiopiens überholt wurde. Die Amerikaner haben davor gewarnt, dass sich diese Beziehung kaum von einer Schuldenfallen-Diplomatie unterscheidet und dass China in Afrika Neokolonialismus betreibt.

Das wichtigste Importland Äthiopiens im Jahr 2019 war China mit einem Anteil von 27 Prozent an den Importen. Die Statistik zeigt die wichtigsten Importländer für Äthiopien im Jahr 2019. (Quelle: Statista)

In den letzten Jahren hat der wirtschaftliche Aufstieg Chinas die USA zunehmend beunruhigt und sie haben versucht, ihn zu behindern. Zusätzlich zu Sanktionen gegen Peking, versuchten die USA das Wachstum von Tech-Firmen wie Huawei und TikTok zu blockieren, während sie gleichzeitig ihr Militär im Südchinesischen Meer unter dem Vorwand aufstockten, Taiwan schützen zu wollen. Daher gibt es Befürchtungen, dass die USA – da sie den wirtschaftlichen Einfluss auf Äthiopien verlieren – sich darauf vorbereiten könnten, den Einfluss militärisch wieder herzustellen.

China hat seinerseits Abiy unmissverständlich unterstützt. „China steht fest an der Seite des äthiopischen Volkes und vertritt konsequent eine Position gegen eine als Menschenrechte oder Demokratie verkleidete äußere Einmischung in die inneren Angelegenheiten Äthiopiens“, sagte Zhao Zhiyuan, Chinas Botschafter in Äthiopien, letzte Woche [43].

Allerdings wäre es ein Fehler, Abiy als eine Art kommunistisches Trojanisches Pferd zu sehen. Wie Melesse anmerkte, kam dieser Bruch mit den USA unerwartet, da seine Regierung „sich sowohl ideologisch als auch praktisch mehr an der kapitalistisch, liberalen demokratischen Ordnung des Westens ausrichtet als das TPLF-geführte Regime, dem sie nachfolgte“. Der neue Premierminister hat eine Reihe von marktfreundlichen Reformen umgesetzt und staatliche Unternehmen privatisiert. Er war auch bereit, sich Geld vom IWF [44] und der Weltbank [45] zu leihen, also von zwei Institutionen, die oft als verlängerter Arm amerikanischer Macht angesehen werden.

Der Konflikt in Tigray und weiteren Regionen hat die äthiopische Gesellschaft verwüstet. Die TPLF ist in einer starken Position und verspricht, bis nach Addis Abeba zu marschieren und Abiy abzusetzen. Es ist unwahrscheinlich, dass es in naher Zukunft einen entscheidenden Sieg für eine der beiden Seiten geben wird. Das bedeutet, dass die humanitäre Krise andauern wird. Zehntausende Menschen sind in Nachbarstaaten geflohen und die anhaltende Gewalt gefährdet die Versorgung mit Nahrung und Medikamenten.

Auch wenn viele Menschen dort gewiss Hilfe brauchen, so scheint es ihnen – aufgrund der Großkundgebungen auf der ganzen Welt, auch in Washington, die „keine weiteren“ US-Interventionen in Äthiopien und Eritrea fordern – bewusst zu sein, dass die Vorstellung der Biden-Regierung von „Hilfe“ nicht das sein könnte, was ihnen vorschwebt.