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„Darüber wird nicht geredet“

„Darüber wird nicht geredet“

Der Physiker und Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil über die Gefahren der Atomenergie, die Indizien für eine Kernexplosion in Tschernobyl, die Schäden des Unglücks in Fukushima sowie die schwankende öffentliche Meinung und „stark professionalisierte Propaganda“ zu diesem Thema. Teil zwei des Interviews.

PAUL SCHREYER

Multipolar: Lieber Herr Pflugbeil, ich würde gern – wir sprachen im ersten Teil unseres Interviews bereits davon – noch einmal auf den Zusammenhang zwischen Atomwaffen und Atomkraftwerken kommen. In der öffentlichen Wahrnehmung sind das zwei völlig getrennte Dinge. Offenbar ist es aber nicht so einfach. In Vorbereitung auf dieses Gespräch habe ich mich noch einmal zur Atomkatastrophe 1986 in Tschernobyl belesen und zu meiner Überraschung festgestellt, dass die Ursache des Unfalls bis heute gar nicht so klar ist, wie man glauben könnte. Da gibt es immer noch heftige Debatten. Wenn man die offiziellen Darstellungen dazu liest, begegnen einem häufiger die Worte „vielleicht“, „möglicherweise“ und „wahrscheinlich“. Sie selbst sind oft in der Region gewesen, haben auch mit Forschern dort Kontakt. Es gibt von russischen Fachleuten die These, dass in Tschernobyl eine Kernexplosion stattgefunden hat, etwas, was es nach der gängigen Wissenschaft in einem Atomkraftwerk eigentlich gar nicht geben dürfte. Das wird in Russland, wie Sie sagen, in Wissenschaftskreisen offen diskutiert. Wie ist diese These aus Ihrer Sicht einzuschätzen?

Pflugbeil: Direkt nach Tschernobyl gab es in der Sowjetunion Geheimhaltungsvorschriften von allen damit irgendwie in Verbindung stehenden Ministerien. Es wurde verboten, Daten über die Liquidatoren, also die Menschen, die dort die Aufräumarbeiten erledigt hatten, und die Gesundheitsschäden zu erfassen. Es wurde verboten, Daten über den Unfallablauf zu dokumentieren und Daten über die Verbreitung der Kontamination zu erfassen. Das war alles Tabu und durfte nicht einmal aufgeschrieben werden – ähnlich wie bei Hiroshima. Dort ist ein mehrjähriges Informationsloch entstanden, was sich nicht reparieren lässt. Man weiß nur Bruchstücke.

Der erste Bericht über den Unfall wurde im August 1986 abgegeben, also wenige Monate später. Dieser Vortrag wurde in Wien bei der IAEA gehalten und der Vortragende war Professor Legassow. Das war einer der führenden Leute im Kurtschatow-Institut in Moskau. Er war an der Konstruktion des Reaktors beteiligt gewesen. Legassow hielt einen einigermaßen sachlichen Vortrag und machte auch erste Abschätzungen über das