Der renommierte Professor Zhang Weiwei erklärt Chinas System, seine Unterschiede zum Westen und die Vision einer multipolaren Weltordnung.
Im Gespräch mit dem Journalisten Ben Norton analysiert der chinesische Professor Zhang Weiwei von der Fudan-Universität die wachsende Rolle Chinas in der globalen Politik und Wirtschaft. Das Interview beleuchtet, warum China ein alternatives Modell zur westlichen Ordnung anbietet, wie es seine Finanz- und Technologiestrategien aufbaut und warum Peking zunehmend als treibende Kraft einer multipolaren Weltordnung auftritt.
Ein Paradigmenwechsel: Politik, Gesellschaft und Kapital im Gleichgewicht
Laut Professor Zhang Weiwei basiert das chinesische Modell auf einer grundlegenden Philosophie: das Gleichgewicht zwischen politischer Macht, sozialer Macht und dem Kapital, und zwar zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung.
„In China balancieren wir politische Macht, soziale Macht und die Macht des Kapitals – zugunsten der großen Mehrheit.
In den USA ist das Gleichgewicht zugunsten des Kapitals verschoben. Das ist das Problem.“
Diese Sichtweise prägt das Verständnis von Governance in Peking: Während westliche Demokratien die Macht zwischen Regierung, Parlament und Justiz teilen, betrachtet China diese Institutionen lediglich als Teile des politischen Systems. Entscheidender sei jedoch, das Kapital und die Gesellschaft in dieses Gleichgewicht einzubeziehen – etwas, das westliche Systeme vernachlässigen.
Der chinesische Sonderweg: Sozialistische Marktwirtschaft
China beschreibt sein Modell als „Sozialismus mit chinesischen Eigenschaften“ oder „sozialistische Marktwirtschaft“. Was bedeutet das konkret?
- Starke Rolle des Staates:
Land, Bodenschätze, strategische Industrien, Telekommunikation und große Teile des Finanzsystems sind staatlich kontrolliert. - Flexibler Einsatz marktwirtschaftlicher Kräfte:
Unternehmen dürfen privat agieren und profitieren von einem stabilen, vom Staat aufgebauten Infrastruktur-Ökosystem. - Innovation durch Wettbewerb:
Chinesische Tech-Giganten wie TikTok, Shein oder Temu entstanden aus einem hochkompetitiven Binnenmarkt, der Firmen zwingt, auf Weltmarktniveau zu innovieren. - Digitalisierung als Staatsprojekt:
Jedes Dorf in China hat 4G- oder 5G-Abdeckung, oft besser als in westlichen Metropolen. Das ist Teil einer zentralen politischen Agenda.
Das Ergebnis: China entwickelte innerhalb von 30 Jahren eine digitale und industrielle Infrastruktur, die westliche Volkswirtschaften mittlerweile in vielen Sektoren übertrifft.
Demokratie chinesischer Prägung: „Volksdemokratie im gesamten Prozess“
Im Westen wird China häufig als autoritär bezeichnet. Zhang widerspricht und beschreibt eine andere Sichtweise auf Demokratie:
- Demokratie als Prozess:
Während westliche Demokratien auf Wahlen alle vier Jahre reduziert seien, sehe China Demokratie als kontinuierlichen Prozess. - Gesetzgebung von unten nach oben:
Neue Gesetze werden in lokalen Kontaktzentren diskutiert, in denen Bürger Feedback geben, bevor sie verabschiedet werden. - Substanz statt Form:
Für China zählt weniger das Verfahren (eine Stimme, ein Wahlzettel), sondern das Ergebnis: gutes Regieren.
„Wir sprechen von guter Regierungsführung statt formaler Demokratie. Entscheidend ist nicht, wie oft man wählt, sondern wie gut das Land geführt wird.“
Wirtschaftliche Dominanz durch Planung und Größe
Ein Kernaspekt von Zhangs Analyse ist Chinas Fähigkeit, langfristige Strategien zu verfolgen – ein Vorteil gegenüber kurzfristig orientierten westlichen Demokratien.
- Fünfjahrespläne:
Großprojekte wie die führende Rolle Chinas in der E-Mobilität wurden über 20 Jahre hinweg geplant und umgesetzt. - Industrieökosysteme:
Regionen wie das Perlflussdelta und das Jangtse-Delta bieten Unternehmen wie Apple oder Tesla komplette Lieferketten im Umkreis von 100 Kilometern – etwas, das die USA laut Zhang „in Jahrzehnten nicht reproduzieren können“.
Dedollarisation: Chinas Angriff auf die US-Finanzhegemonie
Einer der spannendsten Aspekte ist Chinas Versuch, das Dollar-Monopol zu brechen. Zhang verweist auf drei Entwicklungen:
- Zunehmender Handel in Yuan:
Bereits 54 % des chinesischen Außenhandels werden in Yuan abgewickelt, nur noch 41 % in Dollar. - SIPs statt SWIFT:
Chinas neues digitales Zahlungssystem SIPs konkurriert mit dem westlich dominierten SWIFT:- SWIFT: alte Technologie, hohe Gebühren, Transaktionen dauern Tage.
- SIPs: Blockchain-basiert, nahezu kostenlos, sekundenschnell.
- BRICS als Gegengewicht:
Mit Partnern wie Russland, Indien und Brasilien treibt China eine neue multipolare Finanzarchitektur voran.
„Die USA haben alles weaponized – den Dollar, SWIFT, Sanktionen. Das beschleunigt nur den Übergang zu Alternativen.“
Das geopolitische Ziel: Eine multipolare Weltordnung
Für Zhang ist klar: Die unipolare Weltordnung unter US-Führung ist vorbei. China strebt keine revolutionäre Zerstörung, sondern eine Reform des Systems an.
- Russland sei der „Revolutionär“,
- China dagegen der „Reformer“.
Beide eint jedoch ein Ziel: die Schwächung der US-Dominanz und der Aufbau einer gerechteren globalen Machtverteilung.
Fazit: Chinas Modell als globale Herausforderung
Zhangs Analyse macht deutlich, dass China nicht nur wirtschaftlich, sondern auch ideologisch eine Alternative zur westlichen Ordnung anbietet.
- Politisch: Meritokratie statt Parteipolitik
- Wirtschaftlich: Langfristige Planung statt kurzfristiger Profitorientierung
- Finanziell: Aufbau paralleler Systeme zum Dollar
- Geopolitisch: Der Übergang zu einer multipolaren Welt
Der Westen steht damit vor einer strategischen Herausforderung: Entweder erfindet er sein eigenes Modell neu oder riskiert, dauerhaft ins Hintertreffen zu geraten.


