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„Der Horror! Der Horror!“ – Neuauflage in Palästina

Pepe Escobar

“Mistah Kurtz – er ist tot.”
Joseph Conrad, Herz der Finsternis

Joseph Conrad sagte einmal, dass er vor seinem Besuch im Kongo nur ein einfaches Tier gewesen sei. Es war in einem jener Länder, das besonders durch die Grausamkeit und die Heuchelei des imperialen Ethos hervorstach, wo Conrad den europäischen Kolonialismus in seiner unverdünnten und schrecklichsten Inkarnation entdeckte und in Herz der Finsternis ordentlich beschrieben hat – eines der großen, das Gewissen aufrührenden Epen der Literaturgeschichte.

Es war im Kongo, wo Conrad, ein ethnischer Pole, der in der heutigen „Ukraine“ geboren wurde und die damals von Polen kontrolliert wurde, und der erst mit 23 Jahren begann, auf Englisch zu schreiben, für immer jede Illusion über die zivilisierende Mission seiner Rasse verloren hat.

Andere hervorstechende Europäer seiner Zeit haben nahtlos den gleichen Horror erlebt – bei ihrer Teilnahme an spektakulären Grausamkeiten der Eroberung; und der Metropolis dabei geholfen, Afrika zu zerstückeln und zu plündern; und den Kontinent als Kulisse für ihre – mörderischen – jugendlichen Abenteuer und Initiationsriten benutzt; oder nur ihren Mut getestet, während sie die Seelen der Ureinwohner „gerettet“ haben.

Sie gingen durch das wilde Herz der Welt und machten ihr Vermögen, ihre Reputation oder ihre Buße, nur um in den süßen Komfort der Gewissenlosigkeit heimzukehren – natürlich nur, wenn sie nicht in einem Sarg zurückgeschickt wurden.

Um die verschiedenen „primitiven“ Völker zu dominieren, hat Britannien das Eisen und das Schwert durch den Handel ersetzt. Wie in jedem monotheistischen Glauben glaubten sie, dass es nur einen Weg geben könne; eine Art, seinen Tee zu trinken; eine Art, das Spiel zu spielen – jede Art von Spiel. Alles andere war unzivilisiert, wild, unvernünftig, bestenfalls geeignet als Rohmaterial und für akute Kopfschmerzen.

Der Dschungel in uns

Für das europäische Empfinden war die subäquatoriale Welt, eigentlich der ganze globale Süden, etwas, wohin der Weiße Mann für den persönlichen Triumph ging, oder für den Verfall, wenn er sich in gewisser Weise dem Ureinwohner „anglich“. Die Literatur ist vom Viktorianischen Zeitalter an voll mit Helden, die in „exotische“ Breiten reisten, wo die Leidenschaften – so wie tropische Früchte – größer sind als in Europa, und wo man pervertierte Formen der Selbsterkenntnis bis zum geht nicht mehr ausleben konnte.

Conrad selbst platzierte seine gequälten Helden an den „obskuren“ Orten der Erde, um ihre Schatten neben den Schatten der Welt zu sühnen, weit weg von der „Zivilisation“ und ihren konventionellen Strafen.

Und damit kommen wir zu Kurtz in Herz der Finsternis: Er ist eine Klasse für sich, weil er zu einer extremen Selbsterkenntnis gelangt, wie sie in der europäischen Literatur kaum vorkommt, und sich der vollen Offenbarung der Bösartigkeit seiner Mission und seiner Spezies stellt.

Im Kongo hat Conrad seine Unschuld verloren. Und seine Hauptfigur verlor den Verstand.

Als Kurtz in Coppolas Apocalypse Now in die Kinos kam und Kambodscha den Kongo als Herz der Finsternis ablöste, verunglimpfte er das Image des Imperiums. Also schickte das Pentagon einen kriegerischen Intellektuellen, um ihn zu töten: Captain Willard. Coppola stellte den passiven Zuschauer Willard als noch wahnsinniger dar als Kurtz: und so gelang ihm die psychedelische Demaskierung der ganzen Farce des zivilisatorischen Kolonialismus.

Heute müssen wir nicht mehr die Segel setzen oder in einem Caravan fahren, um die Quelle des nebligen Flusses zu finden, um das neoliberale Abenteuer zu erleben.

Wir müssen nur das Handy öffnen, um den Völkermord zu verfolgen, Live, rund um die Uhr, sogar in HD. Unsere Konfrontation mit dem Horror… der Horror – so die unsterblichen Worte von Kurtz in Herz der Finsternis – kann man beim Rasieren am Morgen erfahren, beim Pilates oder beim Abendessen mit Freunden.

Und so wie Coppola in Apocalypse Now haben wir die Freiheit, einen humanistisch moralischen Stumpfsinn auszudrücken, wenn wir mit einem „Krieg“ konfrontiert sind, eigentlich einem Massaker, das bereits verloren ist – unmöglich, so etwas ethisch aufrecht zu halten.

Heute sind wir alle Conrad-Charaktere, die nur Fragmente erblicken, Schatten, gemischt mit der Benommenheit, in einer grausam denkwürdigen Zeit zu leben. Es ist unmöglich, die Gesamtheit der Fakten zu erfassen – vor allem, wenn „Fakten“ fabriziert und künstlich reproduziert oder aufgepeppt werden.

Wir sind wie Geister, dieses Mal stehen wir nicht vor der Großartigkeit der Natur, oder durchqueren den dichten und unumkehrbaren Dschungel; wir sind wie in einem Videospiel an eine verwüstete Urbanität gekoppelt, Co-Autoren des unaufhörlichen Leidens. Das Herz der Finsternis wird von der „einzigen Demokratie“ in Westasien erschaffen, im Namen „unserer Werte“.

Da sind so viele unsichtbare Schrecken hinter dem Nebel, im Herzen eines Dschungels, der jetzt als urbaner Käfig kopiert wird. Hilflos beobachten wir das absichtliche Töten von Frauen und Kindern, das Flächenbombardement von Krankenhäusern, Schulen und Moscheen, als seien wir alle Passagiere auf einem betrunkenen Schiff, das in einen Strudel stürzt, und wir bewundern die majestätische Erhabenheit des ganzen Schauspiels.

Und wir sterben bereits, bevor wir den Tod erahnen.

Wir sind die Nachkommen von T.S. Eliots Die hohlen Männer. Die quälenden Schreie aus dem Dschungel kommen nicht mehr aus einer „exotischen“ Hemisphäre. Der Dschungel ist hier – und er kriecht in uns alle hinein.

(Anm.d.Ü.: Die Schlusszeilen von Die hohlen Männer:
Auf diese Art geht die Welt zugrund
Auf diese Art geht die Welt zugrund
Auf diese Art geht die Welt zugrund
Nicht mit einem Knall, sondern mit Gewimmer.)