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Deutsche Medien und das politische Establishment überlegen, ob sie die politischen Bevorzugungen eines Fünftels der Bevölkerung verbieten sollen

Seit dem 19. Juni liegen die Umfragewerte für die rechtspopulistische “Alternative für Deutschland” konstant bei 20 Prozent und darüber. Sie ist damit die zweitbeliebteste Partei in Deutschland – knapp vor der Regierungspartei SPD und hinter der CDU/CSU. Vergangene Woche gab der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Thomas Haldenwang, in den öffentlich-rechtlichen Medien ein Interview, in dem er der Partei erneut vorwarf, “eine erhebliche Anzahl von Personen zu beherbergen, die wiederholt Hass und Hetze gegen Minderheiten verbreiten”. Trotz der ernsthaften Frage, ob Haldenwangs wiederholte Verleumdungen überhaupt gerechtfertigt sind, stimmten die Sprecher aller großen Parteien dieser Einschätzung sofort zu.

Wichtig ist zudem, dass Haldenwang selbst Mitglied der CDU ist. Eigentlich müssten die Christdemokraten die großen Gewinner in der Opposition sein, denn die Regierungskoalition von Olaf Scholz stolpert von einer Krise in die nächste. Angela Merkel hat der Partei keinen Gefallen getan, indem sie die Christdemokraten in die katastrophale Pandemiebekämpfung, die anhaltende Massenmigrationskrise und sogar in den Aufstieg der grünen Klimapolitik verwickelt hat. Die Christdemokraten haben es versäumt, eine echte Alternative zur jetzigen Regierung zu bieten, stattdessen erntet die AfD die Früchte.

Einen Tag nach Haldenwangs erneuten Warnungen veröffentlichte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Spiegel einen Leitartikel, in dem er die AfD so direkt verurteilte, wie es die Umgangsformen erlauben, und an einer Stelle sogar zum “militanten” Widerstand gegen die Partei aufrief:

Unsere Verfassung hält härteste und schärfste Auseinandersetzungen aus. Aber sie kann keine Verfassungsfeinde integrieren – und die Gefahr, die von ihnen ausgeht, dürfen wir nicht ignorieren. Politische Gegnerschaft ist das eine, Verfassungsfeindlichkeit das andere.

Was ist also zu tun? Im Kampf gegen den Extremismus gibt es eine historische Lehre, die sich wie ein roter Faden durch den ersten Verfassungsentwurf auf Herrenchiemsee zieht – und die auch heute noch gilt: Eine Demokratie muss gegen ihre Feinde gefestigt werden. Nie wieder dürfen demokratische Freiheitsrechte missbraucht werden, um Freiheit und Demokratie abzuschaffen. Wehrhaft im politischen Alltag zu sein, heißt vorwiegend, offen zu sein für die politische Auseinandersetzung und die Lügen der Feinde der Freiheit nicht stillschweigend oder beschwichtigend hinzunehmen und ihnen damit Vorschub zu leisten. Die demokratischen Parteien sind aufgerufen, eine klare, entschlossene, ja kämpferische Opposition zu zeigen …

Diese kämpferische Opposition gibt es bereits. Am Freitagabend wurde der Augsburger AfD-Politiker Andreas Jurca bei einem gezielten politischen Angriff von Migranten niedergeschlagen und erlitt schwere Prellungen im Gesicht und einen gebrochenen Knöchel.

Die hessische Antifa hat auch die persönlichen Adressen aller AfD-Kandidaten für die Landtagswahl im Oktober veröffentlicht. Ich bezweifle, dass man an solche Informationen ohne staatliche Hilfe so leicht herankommt.

Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken sprach sich gestern für ein Verbot der AfD aus, sollten die Verfassungsschützer die Partei als “bestätigt rechtsextremistisch” einstufen, was mit ziemlicher Sicherheit früher oder später der Fall sein wird: “Der Kampf gegen die AfD ist ein Kampf, den die ganze Gesellschaft, alle Demokraten gemeinsam führen müssen”.

An der Machbarkeit eines Verbots gibt es erhebliche Zweifel. Oliver Maksan vom Berliner Büro der Neuen Zürcher Zeitung weist darauf hin, dass die Partei die Kriterien bei Weitem nicht erfülle, selbst wenn man der Argumentation halber alle Charakterisierungen des Establishments über ihre “antidemokratischen” Tendenzen akzeptiere:

Bundesregierung, Bundesrat oder Bundestag müssten das Bundesverfassungsgericht davon überzeugen, dass die gesamte Partei, nicht nur einzelne Mitglieder, verfassungsfeindliche Ziele in ihr Programm aufgenommen hat und diese planvoll, kämpferisch und effektiv verfolgt. …

Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz … sieht in der AfD keinen einheitlichen Block. Noch in seinem Jahresbericht 2022 heißt es: “Angesichts der anhaltenden inhaltlichen Heterogenität innerhalb der Partei … können nicht alle Parteimitglieder als Anhänger extremistischer Bestrebungen angesehen werden”.

Es reicht auch nicht aus, auf die in der Partei weitverbreitete Ablehnung der EU, Sympathien für Russland oder Skepsis gegenüber der NATO zu verweisen. Man kann solche Haltungen für falsch halten, verboten sind sie nicht. Was man nachweisen müsste, wären tatsächliche Bestrebungen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung, konkret die Prinzipien der Demokratie, der Menschenwürde und der Rechtsstaatlichkeit, ganz oder teilweise zu beseitigen.

Ich könnte Maksans Optimismus teilen, wäre da nicht Covid. Offensichtlich wird der deutsche Staat tun, was er will, und sich hinterher überlegen, wie er es rechtfertigt. Überzeugender ist Maksans Argument, dass ein förmliches Verbotsverfahren langwierige Prozesse nach sich ziehen und in der Zwischenzeit der AfD enormen Zulauf bescheren würde. Dieses Risiko scheint das BfV einzugehen:

“Die politische Mitte schmilzt derzeit wie Eis in der Sonne”, sagte ein hochrangiger ostdeutscher BfV-Beamter kürzlich der WELT auf Anfrage. Im Osten gebe es inzwischen Kreise, in denen nicht nur 20 bis 30 Prozent für die AfD stimmten, sondern sogar 40 oder 50 Prozent.

Die großen Parteien könnten der AfD jederzeit erhebliche Unterstützung entziehen, indem sie ihr politisches Programm einfach abschwächen. Das Bedrohlichste an dieser Entwicklung ist die generelle Weigerung, diesen Weg auch nur in Erwägung zu ziehen. Wie ich bereits in einem anderen Zusammenhang gesagt habe, ist Demokratie für unsere Machthaber kein politisches System, sondern eine Reihe erwünschter Ergebnisse. Formal demokratische Prozesse, die diese Ergebnisse gefährden, gelten als undemokratisch und werden nicht mehr zur Kenntnis genommen. Nicht die AfD oder ihre Anhänger haben sich radikalisiert; viele Aussagen der AfD, die von den Medien als extremistisch und faschistisch denunziert werden, waren schon vor zwei Jahrzehnten politischer Gemeinplatz. Extrem geworden ist vielmehr das politische Establishment, das den Kontakt größtenteils der Wählerschaft verloren hat. Ich befürchte, dass dies ein einseitiger, sich selbst verstärkender Prozess ist und unsere Regierenden nie mehr den Weg zurück finden werden.