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Die achte Front: Israels digitales Iron Dome und der Kampf um die Erzählung

Während sein Militär Gaza bombardiert – trotz eines vereinbarten Waffenstillstands – startet Tel Aviv eine parallele Online-Offensive, die darauf abzielt, Widerstandsnarrative zum Schweigen zu bringen, die globale Wahrnehmung zu manipulieren und das digitale Gedächtnis seiner Kriegsverbrechen umzuschreiben.

Von Mohamad Hasan Sweidan

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu bezeichnete die „achte Front“ seines Krieges als den Kampf um die Wahrheit:
„Sieben Fronten gegen den Iran und seine Stellvertreter. Die achte: der Kampf um die Wahrheit“, sagte er während einer Zeremonie des US-Senders Newsmax im Waldorf Astoria Hotel in Jerusalem.

Ziel ist es, die Vorwürfe von Völkermord und vorsätzlich herbeigeführter Hungersnot im Zusammenhang mit Israels zweijährigem Krieg gegen den Gazastreifen zu widerlegen – wobei soziale Medien und künstliche Intelligenz (KI) die wichtigsten Schlachtfelder dieser Front darstellen.

Digitales Iron Dome

Nach der Operation Al-Aqsa-Flut am 7. Oktober 2023 wurde Israels sogenanntes „Digitales Iron Dome“ aktiviert – um digitale Inhalte abzufangen, so wie das militärische Iron Dome Raketen abfängt. Doch statt Splittern sind die Ziele Ideen – Posts, Bilder, Videos – die Israels Gräueltaten in der belagerten Enklave aufdecken.

Dieses digitale Schutzschild funktioniert auf zwei Ebenen:

  1. Das freiwillige Meldesystem: Eine landesweite Kampagne, in der Nutzer soziale Plattformen mit Massenbeschwerden gegen Inhalte überfluten, die als israelfeindlich gelten. Eine Kombination aus KI und menschlichen Prüfern klassifiziert gemeldete Beiträge blitzschnell und sendet Löschanfragen an Plattformen wie Meta, TikTok und X. Das Ziel ist Schnelligkeit – die Erzählung zu „töten“, bevor sie sich verbreitet. TikTok allein löschte in den ersten sechs Monaten des israelischen Völkermords in Gaza 3,1 Millionen Videos und beendete 140.000 Livestreams. Die Cyber-Einheit des israelischen Generalstaatsanwalts reichte im gleichen Zeitraum fast 9.500 Löschanträge ein, wobei Meta angeblich in 94 Prozent der Fälle zustimmte.
  2. Algorithmische Kriegsführung: KI-Systeme durchsuchen über 200.000 Websites, um abweichende Narrative zu identifizieren, und bombardieren dann betroffene Nutzer in Echtzeit mit bezahlten pro-israelischen Inhalten. Diese Anzeigenkampagnen imitieren Aussehen und Timing organischer Posts – um die Feeds mit einer künstlich erzeugten Gegen-Erzählung zu fluten.

Diese Doppelstrategie zielt darauf ab, zu überwältigen und zu löschen:
Die erste Ebene unterdrückt die Verbreitung von Widerstands-Stimmen, die zweite ersetzt sie durch staatlich genehmigte Fälschungen.

Die Waffe „soziale Medien“

„Wir alle sind Ziele dieser Kriege. Wir sind diejenigen, deren Klicks entscheiden, welche Seite gewinnt.“
– Peter Singer, Mitautor von LikeWar: The Weaponization of Social Media

Am 26. September 2025 traf sich Netanjahu mit 18 US-amerikanischen Social-Media-Influencern.
Die Anweisung: TikTok, X, YouTube und Podcasts mit pro-israelischen Botschaften zu überfluten. Eine Woche später stellte Tel Aviv 145 Millionen Dollar für seine bisher größte digitale Propagandakampagne bereit – Project 545. Ziel ist die Beeinflussung der US-amerikanischen öffentlichen Meinung, insbesondere der Generation Z, mit KI-gestützten Inhalten für TikTok und Instagram.

Dokumente des US-amerikanischen Foreign Agents Registration Act (FARA) zeigen, dass das israelische Außenministerium mit der Firma Clock Tower kontrahierte, die von Donald Trumps ehemaligem Wahlkampfleiter Brad Parscale geleitet wird. Ziel ist es, sowohl den öffentlichen Diskurs als auch die Antworten von KI-Plattformen wie ChatGPT, Grok und Gemini zu beeinflussen.

Parallel dazu wurde das Esther Project gestartet, das US-Influencer finanziell unterstützt – mit Verträgen von bis zu 900.000 Dollar pro Person. Diese Influencer sollen 25–30 Beiträge pro Monat veröffentlichen, um einen konstanten Strom pro-israelischer Inhalte zu erzeugen.
Zwischen Juni und November 2024 wurden mindestens 900.000 Dollar an 14–18 Influencer gezahlt, mit durchschnittlichen Vergütungen von 6.100–7.300 Dollar pro Post.

Bridge Partners, eine mit dem israelischen Außenministerium beauftragte Firma, stellte der internationalen Mediengruppe Havas Media Group in Deutschland eine Reihe von Rechnungen für diese Kampagne aus.

Show Faith by Works, ein im Juli 2025 gegründetes Unternehmen, erhielt innerhalb von zwei Monaten 325.000 Dollar, um israelische Propaganda unter christlichen Gemeinden in den USA und im Westen zu verbreiten. Mit geplanten Gesamtausgaben von bis zu 4,1 Millionen Dollar gilt dies als die „größte Geofencing-Kampagne für christliche Kirchen in der Geschichte der USA“.
Unterdessen steckte das israelische Außenministerium weitere 137 Millionen Dollar in weltweite Kampagnen zur Meinungsbeeinflussung – zusätzlich zu den regulären Imageprogrammen.

Diese Initiativen sind Teil der umfassenderen Strategie namens Hasbara – einem hebräischen Begriff für Israels Öffentlichkeitsarbeit und Propaganda. In der digitalen Ära hat sich Hasbara von klassischen Mediennarrativen zu hochentwickelten, KI-gestützten Einflussoperationen entwickelt, die darauf abzielen, den Online-Diskurs zu dominieren und zu verzerren.

Ein Bericht des spanischen öffentlich-rechtlichen Senders RTVE, basierend auf einer Untersuchung von Eurovision News Spotlight, ergab, dass die israelische Regierung rund 50 Millionen Dollar für Werbung auf Google, X und den französisch-israelischen Netzwerken Outbrain und Teads ausgab.

Ziel dieser Kampagne war es laut Untersuchung, die weltweite Berichterstattung über die Hungersnot in Gaza zu kontern, indem ein Bild der Normalität vermittelt wurde. Zwischen Januar und Anfang September 2025 schaltete Tel Aviv über 4.000 digitale Anzeigen – die Hälfte davon für internationale Zielgruppen. Diese zeigten ein „gereinigtes“ Gaza – frei von Trümmern und Hunger.

Digitale „Reinigung“ von Kriegsverbrechen

Der Online-Krieg endet nicht bei öffentlichen Plattformen.
Im Mai 2024 gab OpenAI bekannt, dass es fünf verdeckte „Einflussoperationen“ enttarnt habe, die seine Tools missbrauchten – eine davon wurde von der israelischen Firma STOIC betrieben. Das Unternehmen nutzte Sprachmodelle, um pro-israelische und anti-Hamas-Inhalte für US-Publikum zu erzeugen, die dann über Fake-Accounts auf Facebook, X und Instagram verbreitet wurden.

Die New York Times berichtete über eine parallele Regierungsoperation Israels, bei der fast 600 Fake-Accounts eingesetzt wurden, um die Feeds von 128 US-Abgeordneten mit über 2.000 gezielten Kommentaren pro Woche zu fluten. Diese verteidigten Israels Handlungen und diffamierten palästinensische Institutionen sowie das führende Hilfswerk in Gaza, die UNRWA.

Die UNRWA-Sprecherin Juliette Touma sagte dazu:

„Diese Anzeigen sind zerstörerisch für Menschen. Sie sollten aufhören, und diejenigen, die für diese Sabotage verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Nach dem Krieg sollte es gründliche Untersuchungen mit Unternehmen wie Google geben. Es gibt viel zu beantworten.“

Durch solche Methoden versucht Tel Aviv, oppositionelle Narrative im Moment ihres Entstehens zu verhindern und zu überschreiben.
Das Ergebnis ist ein digitaler Raum, gesättigt mit staatlicher Propaganda – eine Zeitleiste, die so konstruiert ist, um zu vergessen.

Export der Unterdrückung

Die globale Gefahr liegt im Modell, das durch dieses Beispiel geschaffen wird.
Wenn eine koloniale Militärmacht, der glaubwürdig Völkermord vorgeworfen wird, digitale Werkzeuge einsetzen kann, um die Realität in Echtzeit umzuschreiben, sendet das eine klare Botschaft: Jeder mit Geld und Technologie kann dasselbe tun.

Israels System ist einfach, aber verheerend effektiv:
Massenmeldungen, um abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen; gezielte Werbung, um Wahrnehmungen zu manipulieren; Influencer-Verträge, um Zustimmung zu inszenieren; und KI-Tools, um die Wahrheit zu verzerren.

Wenn sich dieses Modell verbreitet, werden Widerstandsstimmen weltweit – von Studierenden über Journalist:innen bis zu indigenen Bewegungen – ihre Wahrheiten unter einer bezahlten Lawine staatlicher Propaganda begraben sehen.

Tel Aviv mag diese digitale Besatzung der Wahrheit erfunden haben.
Aber es wird nicht das letzte sein, das sie gegen jene einsetzt, die für Gerechtigkeit kämpfen.