Der Virologe Geert Vanden Bossche ist zurück – mit einer neuen, alarmierenden Analyse. In seinem Aufsatz vom 8. Juni argumentiert er, dass die globale COVID-19-Impfstrategie ein fataler Irrweg war. Die Welt, so seine These, steuert auf eine gefährliche Abrechnung zu: nicht durch ein Versagen der Impfstoffe, sondern durch ihre erfolgreiche, aber kurzsichtige Anwendung während einer laufenden Pandemie.
Für Vanden Bossche ist das keine apokalyptische Vision – sondern Biologie.
Immunflucht: Realität mit Schattenseiten
Zentrales Argument: Die COVID-Impfung hat das Virus unter Druck gesetzt – und so zur beschleunigten Entwicklung impfresistenter Varianten beigetragen. Je mehr Menschen geimpft wurden, desto mehr musste sich das Virus anpassen. Varianten wie Delta und Omicron seien das direkte Ergebnis dieser Dynamik.
Die wissenschaftliche Community gibt ihm teils recht: Immunflucht ist ein bekanntes Phänomen. Doch Bossche geht weiter. Er warnt vor einer Eskalation hin zu weitaus gefährlicheren Varianten – eine These, für die bislang keine belastbaren Belege existieren. Im Gegenteil: Neuere Varianten zeigen bislang eher geringere Schweregrade, trotz höherer Übertragbarkeit. Dennoch: Erste Studien deuten darauf hin, dass wiederholte Impfungen mit einer gewissen Zunahme der Anfälligkeit korrelieren könnten. Ein klarer Zusammenhang ist aber bislang nicht nachgewiesen.
Der Fehler im Timing?
Ein weiterer zentraler Vorwurf von Bossche: Die Impfkampagne während eines laufenden Massenausbruchs habe das Virus zusätzlich beschleunigt. Das Timing sei katastrophal gewesen. Statt die Pandemie zu stoppen, habe man ihr die Werkzeuge zur Evolution geliefert.
Auch hier liefert er einen wissenschaftlich plausiblen, aber umstrittenen Punkt. Evolutionärer Druck durch Impfstoffe ist real – doch viele Studien zeigen, dass ein späterer Impfstart Millionen Menschenleben hätte kosten können. Allein in den USA, so Schätzungen, retteten die Impfstoffe bis Ende 2022 über drei Millionen Menschenleben.
Bossches Verweis auf tiermedizinische Beispiele wie das Marek-Virus bei Hühnern ist zwar provokativ, lässt sich jedoch nur bedingt auf die Komplexität menschlicher Virusdynamik übertragen.
Zerstörte Immunbalance?
Einer seiner umstrittensten Punkte: Impfstoffe könnten das Gleichgewicht der menschlichen Immunabwehr stören, insbesondere die angeborene Immunität. Wiederholte Impfungen, so Bossche, schwächten unsere erste Verteidigungslinie und förderten eine „Immunprägung“ – also die Tendenz des Körpers, nur auf die ursprüngliche Virusvariante zu reagieren, nicht aber auf neue Mutationen.
Hier trifft Bossche erneut einen wunden Punkt der Wissenschaft: Immunprägung ist real – aber nicht zwangsläufig schädlich. Booster und natürliche Infektionen können die Abwehrfähigkeit wieder stärken. Es gibt bisher keine soliden Beweise dafür, dass die Impfstoffe das Immunsystem dauerhaft beschädigen. Einige Studien, darunter von der Cleveland Clinic, deuten zwar auf eine erhöhte Infektionsrate bei mehrfach Geimpften hin – aber gleichzeitig zeigen viele Analysen, dass geimpfte Personen insgesamt besser durch Pandemiewellen gekommen sind als ungeimpfte.
„HI-VI-CRON“ – eine Supervariante am Horizont?
Bossches apokalyptisches Szenario: Eine tödliche Supervariante namens „HI-VI-CRON“ könnte das Resultat dieser Entwicklung sein – hochinfektiös, impfresistent und schwer krankmachend. Als Frühwarnsignal sieht er Varianten wie NB.1.8.1 („Nimbus“).
Doch bislang gibt es keine Anzeichen, dass diese Variante gefährlicher ist. Die WHO stuft sie als wenig bedrohlich ein. Die Evolution favorisiert Verbreitung – nicht unbedingt Tödlichkeit. Und die von Bossche beschworene globale Immunschwäche ist bisher empirisch nicht sichtbar.
Wo liegt er richtig – und wo nicht?
Richtig liegt Bossche:
- Immunflucht ist ein reales, wissenschaftlich anerkanntes Phänomen.
- Der evolutionäre Druck durch unvollständige Immunität ist biologisch plausibel.
- Die Rolle der angeborenen Immunität verdient deutlich mehr Aufmerksamkeit.
Doch falsch oder unbelegt bleibt:
- Die Vorhersage eines Massensterbens ist bislang nicht eingetreten.
- Die positiven Effekte der Impfungen – gerade in der Anfangsphase – werden von ihm systematisch ignoriert.
- Sein Stil ist oft dogmatisch, abwertend gegenüber Kritik – was einer offenen wissenschaftlichen Debatte widerspricht.
Fazit: Warnung mit offenen Fragen
Geert Vanden Bossche hat früh auf kritische Punkte hingewiesen, die in der Euphorie der Impfkampagnen oft untergingen. Seine Mahnung zur Vorsicht und zu tiefergehender Forschung ist wertvoll – besonders was Immunflucht und angeborene Abwehr betrifft.
Doch seine dramatischeren Vorhersagen – etwa ein impfbedingter globaler Gesundheitskollaps – haben sich bislang nicht bewahrheitet. Wissenschaft braucht kühne Stimmen wie seine. Aber sie braucht auch Beweise. Und in vielen Punkten liefert Bossche bisher mehr Alarm als Substanz.
Was bleibt, ist ein offenes Rennen zwischen Virus, Wissenschaft – und Wahrheit.