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Ukraine als Gottes neues Spielfeld: Krypto-katholische Kirche als Katalysator des „Banderismus“?
Gettyimages.ru © Marijan Murat/dpa

Ukraine als Gottes neues Spielfeld: Krypto-katholische Kirche als Katalysator des „Banderismus“?

In welcher Kirchentradition stehen heute die dem Bandera-Kult verpflichteten Ukrainer, die um jeden Preis Russland vernichtet sehen wollen? Wer sind ihre Vorfahren? Welche Rolle spielen der Vatikan und die russische Orthodoxie in diesem osteuropäischen Krieg?

Elem Chintsky

Der klerikale Machtkampf auf dem Gebiet der heutigen Ukraine ist ein wichtiger, historisch weit zurückreichender Aspekt des gegenwärtigen Stellvertreterkrieges der USA, der NATO und der EU gegen Russland. Eines Stellvertreterkriegs, der in erster Linie mittels der dem Kiewer Regime unterstehenden, ukrainischen Streitkräfte geführt wird, aber nicht nur.

Theoretisch könnte man zu seiner Ergründung sogar bis zum Großen Schisma des Jahres 1054 zurückblicken. Um es jedoch in einem vertretbaren Rahmen zu halten, sei für eine erste, einigermaßen gründliche Kontextualisierung der Kirchenverfolgung in der modernen Ukraine und der geopolitischen Intrigen um sie auf frühere Artikel des Verfassers verwiesen.

Heute widmen wir uns einem Telegram-Post des investigativen, auf Religion spezialisierten russischen Autors und Bloggers Alexander Wosnesenskij. Er beleuchtet darin die verschiedenen Interessen der größten in Osteuropa aktiven Kirchenmächte – der Römisch-Katholischen Kirche samt ihres örtlichen Ablegers und der Russisch-Orthodoxen Kirche. Wosnesenskijs Axiom ist, dass die kirchlichen Konflikte stets im Kontext der politischen Konflikte betrachtet werden sollten. Nur so würde man ein ganzheitliches Bild der Auseinandersetzungen erhalten.

Konkret weist der Blogger auf die historische Affinität der in der heutigen Westukraine dominanten Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK) zur Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) hin, insbesondere zur mehrheitlich aus der OUN gebildeten, ukrainisch bemannten SS-Division „Galizien“, die im Zweiten Weltkrieg der deutschen Waffen-SS unterstand:

„Um diese Situation zu verstehen, müssen wir uns mit dem Kern der Vorgänge befassen: Tatsache ist, dass die UGKK eng mit der Banderiten- und Nazibewegung des Zweiten Weltkriegs verbunden ist. Die gesamte Führungsriege der banderitischen Bewegung waren Kinder und Enkelkinder von unierten Priestern, die ihre Kinder im Geiste des Engagements für die Ideen des Terrorismus und Extremismus erzogen. Was den Nationalsozialismus anbelangt, so waren die UGKK-Priester – und nur sie – Kapläne der SS-Division ‚Galizien‘. Ganz gleich wie Historiker versuchen, diese Nazi-Formation zu beschönigen, sie wissen sehr wohl, dass alle Mitglieder dieser Division bei der Ableistung ihres Eids den Text lasen, in dem Worte der Loyalität gegenüber Adolf Hitler enthalten waren.“

Um Missverständnisse zu vermeiden: Mit „unierten Priestern“ sind solche der UGKK gemeint. Denn nach der Union von Brest im Jahr 1596 nannte man Gemeindemitglieder und Klerus der UGKK auch „Unierte“ (auf Russisch: „Униаты“), da sie sich Rom unterordneten, während sie den byzantinischen Ritus beibehielten. Diese „Union“ war seinerzeit ein enormer Erfolg des Vatikans bei der Gebietserweiterung Richtung Osten.

Wosnesenskij macht ferner auf das ideologische Paradoxon aufmerksam, dass die ukrainischen Mitglieder der UGKK heute Wut und Groll gegen Papst Franziskus hegen. Dieser ist ‒ wie seine Vorgänger in den letzten viereinhalb Jahrhunderten ‒ dank der Kirchenunion von Brest auch ihr geistliches Oberhaupt. Sie empfinden den gegenwärtigen Papst jedoch als einen „Kommunisten“, Russland gegenüber gemäßigt eingestellten „Internationalisten“ sowie „Anti-Nationalisten“.

Womöglich entgeht den extremistischen Ukrainern die Tatsache, dass Papst Franziskus als Jesuit viel mehr Facetten innehat, als die westlichen Massenmedien fähig oder willens sind offenzulegen. Die These, dass der Vatikan – ob mit einem „kommunistischen“ Papst oder ohne – an einer Expansion nach Osten, inklusive eines erweiterten Machteinflusses und somit einer Assimilierung der russischen Orthodoxie, interessiert ist, analysierte der Autor dieses Artikels bereits in einer diesjährigen Publikation. So ist selbst bei den jüngsten, warmherzigen Äußerungen des Papstes zu „Mütterchen Russland“ Vorsicht geboten – so verheißungsvoll sie auch klingen mögen.

Wosnesenskij setzt seine historische Darlegung weiter fort und verknüpft sie mit der Epoche der unipolaren Weltordnung unter Führung der USA ab Anfang der 1990er Jahre:

„Nach der Niederlage von Nazi-Deutschland wurde die UGKK auf dem Gebiet der UdSSR verboten und existierte nur noch im Untergrund. Die meisten Kleriker wanderten jedoch in die USA und nach Kanada aus, wo die unierten Gemeinden oft zu öffentlichen Zentren der banderitischen Bewegung wurden. Ende der 1980er Jahre begann der Vatikan, von der UdSSR die Legalisierung der UGKK zu fordern, und die Behörden der Sowjetunion stimmten dem zu. Unmittelbar danach begannen in der Westukraine Massenproteste gegen die Existenz der Sowjetunion, und unierte Kleriker, unterstützt von Radikalen, begannen mit Massenbesetzungen russisch-orthodoxer Kirchen, Gewalt gegen deren Gläubige und Hasserklärungen gegen die russische Orthodoxie. Gleichzeitig lebte auf der Grundlage der UGKK die banderitische und neonazistische Bewegung wieder auf.“ 

Der Blogger ist auch Autor des zweibändigen Werkes „Ein neuer Kreuzzug – Die Ukraine im Blut“, das er kostenlos ins Internet gestellt hat. Darin deckt Wosnesenskij die Rolle der katholischen Kirche in Protestbewegungen und Staatsstreichen in verschiedenen Ländern auf, mit Schwerpunkt auf der Ukraine des 21. Jahrhunderts. Um seine These zu untermauern, zieht er unter anderem die geopolitischen Offenbarungen des US-Sicherheitsberaters Zbigniew Brzeziński hinzu.

Worauf der hier vorgestellte Telegram-Post nicht eingeht, ist der gewalttätige Konflikt zwischen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche und der NATO-treuen, im Jahr 2018 geschaffenen „Orthodoxen Kirche der Ukraine“. Die Auslassung ist verständlich, weil dies ein eigenes, sehr komplexes Thema ist, das eine eigene Ausarbeitung verdient. Erstere Kirche hatte sogar im Mai 2022 – in der Hoffnung, einer Verfolgung durch die Kiewer Machthaber zu entgehen – dem Moskauer Patriarchat entsagt. Vergebens, denn der Vorwurf der Russland-Nähe wird zur Rechtfertigung der Verfolgung weiterhin erhoben. Das Kiewer Regime unterdrückt die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche und versucht deren Gläubige mit massivem Druck in die systemisch genehme „Orthodoxe Kirche der Ukraine“ zu assimilieren.

Wosnesenskij hält sich nicht mit moralisch begründeter Kritik an der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche zurück: Selbst auf die Zeit bezogen, als die Kirche noch offiziell Moskau unterstand. Und das schwächt leider die Methodik seiner Analyse etwas, da es ein gewisses Fehlen von Selbstkritik (also Kritik an den Versäumnissen der Russisch-Orthodoxen Kirche) durchscheinen lässt. Als Beispiel sei ein neuerer Telegram-Post von ihm erwähnt, in dem er sich darüber echauffiert, dass die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche den ukrainischen Schwergewichtsweltmeister im Boxen, Alexander Ussik, und sein mit Gewalt verbundenes Handwerk feiert. Er stellt es so dar, als ob nur die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche ‒ unter „Einfluss des Westens“ ‒ Kampfsport glorifizieren würde, ein bedauerlicher Doppelstandard. Dazu gleich mehr.

Das Foto im Post selbst, welches den Boxer und Olympia-Sieger mit dem Kiewer Metropoliten Onufrij zeigt, stammt aus dem Jahr 2018 – als die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche formell Moskau unterstand.

Dabei fehlt es nicht an Gründen aus späterer Zeit, fundierte Kritik an Alexander Ussik zu üben. Der Boxer ist derzeit ein international bekannter Schwergewichtsweltmeister, der vor wenigen Tagen seine Titel erneut erfolgreich verteidigen konnte. Als öffentliche Person ist er der NATO-Propaganda vollkommen zum Opfer gefallen. Vor Februar 2022 galt der von der Halbinsel Krim stammende russische Muttersprachler als gemäßigt und hatte Fans in der Russischen Föderation. Seit Februar 2022 redet er nur noch ukrainisch und wünscht sich die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine herbei.

Im Januar 2023 erklärte er zwar, dass er aus der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche trotz allem nicht austreten werde, wünschte sich aber gleichzeitig, dass die Kirche endlich „gesäubert“ werde vom „Einfluss russischer Agenten“. Von einer Unterdrückung seiner Kirche will Ussik sowieso nie etwas gehört haben. Wer den kognitiven Schlag Ussiks prägnant und in voller Pracht sehen möchte, der schaue sich an, wie der Preiskämpfer im August 2022 bei einer Pressekonferenz plötzlich das Bandera-Lied „Червона Калина“ (zu Deutsch: „Der rote Schneeballstrauch“) zu singen anfing. 

Wosnesenskij jedoch verschweigt, dass auch die Russisch-Orthodoxe Kirche, deren Mitglied er ist, gewaltsamen Kampfsport nicht als „unchristlich“ verurteilt. Das zeigt zum Beispiel die Bewunderung des Patriarchen Kirill für den MMA-Kämpfer Fjodor Jemeljanenko. 

In diesem Sinne sei einem jeden von uns das bekannte biblische Prinzip erneut ans Herz gelegt:

„Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“

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Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Chintsky publiziert unter anderem für RT DE und das Nachrichtenmagazin Hintergrund. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.