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Afghanistan – Taliban starten Frühjahrsoffensive, Präsident Ghani bittet um Waffenstillstand

Nach der Ankündigung durch die USA, sich aus Afghanistan zurückzuziehen, habe ich mich in einer Prognose versucht, wie sich die Taliban verhalten würden:

„Da Biden einen festen Abzugstag nannte, werden die Taliban wahrscheinlich ihren Waffenstillstand mit den USA bis zu diesem Tag verlängern, gleichzeitig aber ihren Kampf gegen die afghanischen Regierungstruppen und den IS fortsetzen. Sie werden wahrscheinlich warten, bis der letzte ausländische Soldat abgezogen ist, bevor sie die derzeit noch von den Regierungstruppen gehaltenen Städte einnehmen werden. Sobald das passiert, werden die Regierungstruppen sehr wahrscheinlich auseinanderfallen, woraufhin die derzeit in Kabul herrschenden Warlords wieder gegeneinander und gegen die Taliban kämpfen werden. Ein oder zwei Jahre später werden die Taliban die Kontrolle über das ganze Land haben.“

Es sieht ganz danach aus, als würde der erste Halbsatz eintreten, wie ich es prognostiziert habe. Am Samstag wurde eine einsame Rakete auf den Luftwaffenstützpunkt Bagram abgefeuert. Sie verursachte aber keinerlei Schaden und war auch nicht Teil eines größeren Angriffs.

Der zweite Teil des Satzes jedoch hat sich als falsch erwiesen. Mit der Verlängerung ihres Aufenthalts in Afghanistan bis nach dem 1. Mai haben die USA ihre Vereinbarung mit den Taliban gebrochen, weswegen sie sich nun ebenso wenig an die getroffene Abmachung halten. Im ganzen Land begannen sie mit starken Angriffen im ganzen Land eine zunächst verschobene Frühjahrsoffensive.

Taliban beginnen mit Kräftemessen

Gestern versuchten sich die Taliban das erste Mal, mit Lashkar-gah die südlich gelegene Provinzhauptstadt von Helmand zu erobern.

Zu Beginn des Angriffs wurden etwa 18 Außenposten der afghanischen Armee entlang der Straße zwischen Kandahar und Lashkar-gah sowie zwischen Farah und Lashkagah überrannt. Ohne Zugriff auf die Verbindungsstraßen hatten die Verteidiger der Stadt eineerhebliche Probleme bei der Abwehr des Angriffs:

„Der Chef des Provinzrats von Helmand Attaullah Afghan sagte, die Taliban hätten am Montag aus mehreren Richtungen eine Großoffensive begonnen und dabei Kontrollpunkte am Stadtrand von Lashkar Gah angegriffen, von denen sie einige übernehmen konnten.“

„Das afghanische Militär flog Luftangriffe und ließ Elitekommandos in das Gebiet einfliegen, fügte er an. Die Aufständischen seien zurückgedrängt worden, allerdings dauerten die Kämpfe bis Dienstag an, weswegen Hunderte von Familien fliehen mussten, so Afghan.“

Absehbare Überdehnung für Kabuls Kräfte

Ein weiterer Krisenherd liegt südlich von Kabul. Am Freitag sprengte sich in Pul-e’Alam ein Selbstmordattentäter vor einem Gästehaus in die Luft. Als das Abkommens mit den USA noch bestand, gab es keine derartigen Selbstmordanschläge. Schwere Kämpfe gab es auch in der Umgebung der Stadt Ghazni.

Die Taliban werden versuchen, die auf der Karte gelb eingefärbten Gebiete, wo sie bereits die Kontrolle innehaben, miteinander zu verbinden. Dazu werden sie die Straßen zwischen den größeren Städten blockieren und den Nachschub für die dort stationierten Regierungseinheiten abschneiden.

Die afghanische Armee verfügt über Hubschrauber und leichte Bomber, mit denen sie isolierte Garnisonen unterstützen können, um die Taliban in Schach zu halten. Die Wartung vieler dieser Flugzeuge wird jedoch von „westlichen“ Auftragnehmern durchgeführt, die wahrscheinlich zusammen mit den „westlichen“ Truppen abziehen werden. Die afghanische Luftwaffe verfügt noch über etwa 90 Mi-18-Transporthubschrauber aus russischer Produktion, die vor Ort gewartet werden können. Die meisten von ihnen werden jedoch für Spezialoperationen eingesetzt und stehen nicht zur Unterstützung der allgemeinen Sicherheitskräfte zur Verfügung.

Letzter Strohhalm: Eine friedliche Machtübergabe an die Taliban

Aus Sicht der aktuellen afghanischen Regierung sieht die Situation düster aus. Deshalb erklärt sich Präsident Ashraf Ghani, der bisher jede Machtteilung abgelehnt hatte, nun bereit, eine Übergangsregierung zu bilden und eventuell zurückzutreten:

„Die ersten Verhandlungsthemen müssen den gewünschten Endzustand und einen umfassenden Waffenstillstand zum Inhalt haben, um Ruhe und Erholung in den Alltag der afghanischen Bevölkerung zu bringen und die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in den Friedensprozess wiederherzustellen. Da Waffenstillstände, die während Friedensverhandlungen geschlossen werden, oftmals scheitern, wäre eine internationale Überwachung von entscheidender Bedeutung.“

„Danach müssten die Konfliktparteien den Modus für eine Übergangsverwaltung verhandeln und sich einig werden. Auch die Struktur der Republik intakt bleiben muss, würde eine Übergangsverwaltung die Ordnung und Kontinuität im Land aufrechterhalten, was es ermöglichen würde, Wahlen durchzuführen. Diese Interimsverwaltung hätte eine kurze Amtszeit und würde enden, sobald infolge von Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen eine neue politische Führung für das Land bestimmt wurde. Ich würde bei einer solchen Wahl nicht kandidieren und wäre bereit, vor dem offiziellen Ende meiner Amtszeit als Präsident zurückzutreten, wenn dies bedeuten würde, dass mein gewählter Nachfolger ein Mandat für den Frieden erhält.“

Kabul braucht Geld

Es ist unwahrscheinlich, dass die Taliban einem solchen Friedensprozess zustimmen werden. Sie glauben genauso wenig an Wahlen, wie sie von einem militärischen Sieg ausgehen. Deswegen haben sie auch keinen Grund, sich auf eine Teilung der Macht einzulassen. Ashraf Ghani weiß das. Sein Staat kann jedoch nur so lange in den größten Städten die Macht ausüben, wie Geld in das Land fließt. Deshalb nutzt er seine Position als Außenminister, um dem Westen über die Drohung mit einer Flüchtlingskrise weitere Gelder aus der Tasche zu ziehen:

„Es muss einen geordneten politischen Prozess zur Übertragung der staatlichen Autorität geben, damit die Sicherheitskräfte im Land nicht ohne eine politische Führung dastehen. Darüber hinaus ist auch entscheidend, dass die Vereinigten Staaten und die NATO ihre bestehenden Zusagen zur Finanzierung des afghanischen Militärs einhalten. Dabei handelt es sich vielleicht um den wichtigsten Beitrag, den die internationale Gemeinschaft für einen erfolgreichen Übergang zum Frieden in Afghanistan leisten kann.“

Die drohende Eskalation

„Das Hauptrisiko für den Frieden besteht noch immer in einer Fehlkalkulation seitens der Taliban. Sie glauben weiterhin an ihr eigenes Narrativ, wonach sie die NATO und die Vereinigten Staaten besiegt haben. Sie fühlen sich dadurch bestärkt, zumal ihre politische Führung der Taliban nie den Versuch unternommen hat, sich gegen ihre Militärs durchzusetzen und innerhalb der Taliban der Idee des Friedens zum Durchbruch zu verhelfen. Daher besteht das größte Risiko weiterhin darin, dass die Taliban kein ernst gemeintes Interesse an einer politischen Lösung haben und sie vielmehr weiterhin auf ein militärisches Ende des Konflikts bauen.“

„Sollte sich dies weiterhin so verhalten, dann stehen die afghanische Regierung und ihre Sicherheitskräfte bereit. Wir sind zwar bereit zu Friedensgesprächen mit den Taliban, doch wir sind auch bereit, ihnen auf dem Schlachtfeld zu begegnen. In den vergangenen zwei Jahren wurden mehr als 90 Prozent der afghanischen Militäroperationen ausschließlich von afghanischen Sicherheitskräften durchgeführt. Sollten sich die Taliban für Gewalt entscheiden, hätte das im Frühling und Sommer eine heftige Konfrontation zur Folge, an deren Ende die Taliban keine andere Wahl hätten, als an den Verhandlungstisch zurückzukehren.“

Das erscheint etwas zu optimistisch. Eine bessere Strategie bestünde in einer Evakuierung sämtlicher Truppen aus dem Süden und Osten, um wenigstens die zentralen Provinzen und den Norden halten zu können. Hinzu kommt, dass die Taliban Zeit haben. Sie kämpfen schon seit Jahrzehnten und wissen wie man überlebt. Am Ende dieses Sommers wird es für sie nicht mehr Gründe für Friedensverhandlungen geben als heute.

Sollte es den Taliban in den nächsten Monaten die Eroberung einer größeren Stadt gelingen, oder es infolge der Kämpfe zu Gräueltaten kommen, dann wird der Druck auf die US-Regierung steigen, ein weiteres Mal einzugreifen und Verstärkungen nach Afghanistan zu schicken. Dieser drohende Zugzwang ließe sich nur mit einem raschen Truppenabzug vermeiden. Denn nur dann, wenn es gar keine amerikanische Soldaten mehr in Afghanistan gibt, können auch keine Verstärkungen geschickt werden. Gleichzeitig würden die Medien ohne eine Präsenz dort den Ort bald wieder vergessen.