Unter dem Deckmantel des Kinderschutzes bereitet die Europäische Union eine der weitreichendsten Überwachungsverordnungen der letzten Jahrzehnte vor. Was offiziell den Schutz von Kindern vor Missbrauch sichern soll, könnte in Wahrheit das Ende der vertraulichen, verschlüsselten Kommunikation in Europa einleiten.
Der Entwurf trägt den Titel „Proposal for a Regulation laying down rules to prevent and combat child sexual abuse“ (COM/2022/209 final) und ist auf der Plattform der Europäischen Kommission abrufbar. Darin wird festgelegt, dass Anbieter von Kommunikationsdiensten – von WhatsApp, Signal und Telegram bis hin zu klassischen E-Mail-Providern – verpflichtet werden können, sämtliche Inhalte auf verdächtiges Material zu durchsuchen. Die EU-Kommission spricht dabei von „Erkennung, Meldung, Entfernung und Blockierung“ von Daten, die im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch stehen könnten.
Die entscheidende Passage verbirgt sich in den sogenannten „Detektionsanordnungen“. Sie ermöglichen es nationalen Behörden, Anbietern per Verfügung vorzuschreiben, sämtliche Kommunikationsvorgänge bestimmter Nutzer zu scannen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um öffentliche oder private Kommunikation handelt. In der Praxis bedeutet dies: Jede Nachricht, jedes Foto und jedes Video kann überprüft werden – auch solche, die Ende-zu-Ende verschlüsselt sind.
Die #Chatkontrolle gefährdet auch deine Freiheit & zerstört die Integrität unserer gesamten digitalen Kommunikation. Deine Privatsphäre wird ausgehebelt. Deine persönlichen Nachrichten bleiben nicht mehr geheim. Handele jetzt! #StoppChatkontrolle #PIRATEN https://t.co/rzbJyq7i66 pic.twitter.com/lXyDThkbT9
— PIRATEN Saarland (@PIRATEN_Saar) October 5, 2025
Da Anbieter wie Signal oder WhatsApp die Inhalte ihrer Nutzer technisch gar nicht entschlüsseln können, müsste die Überprüfung auf den Geräten selbst stattfinden. Das Verfahren, das unter dem Begriff „Client-Side-Scanning“ bekannt ist, würde sämtliche Nachrichten bereits vor dem Versand durch eine künstliche Intelligenz oder eine staatlich genehmigte Datenbank bewerten. Was heute als Kinderschutzmaßnahme verkauft wird, ist faktisch eine Infrastruktur zur vollständigen Inhaltskontrolle.
Der Entwurf sieht keine explizite Ausnahme für verschlüsselte Kommunikation vor. Damit wäre das zentrale Prinzip der digitalen Privatsphäre aufgehoben: Nur Sender und Empfänger können lesen, was ausgetauscht wird. Datenschützer warnen daher vor einem Dammbruch. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber sprach bereits 2024 von einem „Paradigmenwechsel – weg vom Rechtsstaat, hin zu einem präventiven Überwachungsstaat“. Auch Netzaktivisten und Menschenrechtsorganisationen äußern scharfe Kritik. European Digital Rights (EDRi) bezeichnete den Entwurf als „gefährlichen Angriff auf die Verschlüsselung und die Meinungsfreiheit“, während die Electronic Frontier Foundation (EFF) vor „massiver Zensur und einem Klima der Angst“ warnt.
Zwar betont die EU-Kommission, die Maßnahmen seien notwendig, um Missbrauchsdarstellungen zu bekämpfen. Doch die technische Umsetzung würde eine beispiellose Datenerhebung erfordern. Damit entstünde ein digitales Überwachungsnetz, das nicht nur Kriminelle betrifft, sondern alle Bürger unter Generalverdacht stellt. Schon heute fordern Kritiker, dass die Systeme, die einmal eingerichtet sind, zwangsläufig auch für andere Zwecke verwendet würden – etwa zur Erkennung von „Hassrede“, „Fake News“ oder politisch unerwünschten Inhalten.
Die Chatkontrolle könnte damit zum größten Eingriff in die digitale Privatsphäre seit Einführung des Internets werden. Sie verwandelt den persönlichen Kommunikationsraum in ein offenes Buch für staatliche Algorithmen – unter einem moralisch unangreifbaren Etikett. Denn wer könnte schon gegen Kinderschutz argumentieren? Genau das macht die geplante Verordnung so gefährlich.
Was als Maßnahme gegen Verbrechen verkauft wird, droht zum Werkzeug der Totalüberwachung zu werden. Einmal eingeführt, lässt sich ein solches System nicht mehr rückgängig machen. Der Weg von der präventiven Kontrolle zur digitalen Zensur ist dann nur noch ein kurzer Schritt.
Quellen:
Europäische Kommission – Entwurf COM/2022/209 final: EUR-Lex
European Digital Rights (EDRi): The EU Chat Control Proposal Explained
Netzpolitik.org: EU will Massenüberwachung privater Chats
Euronews: Is the EU about to start scanning your text messages?
Bundesdatenschutzbeauftragter Ulrich Kelber: BfDI warnt vor Chatkontrolle


