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Ein brutaler, chaotischer Krieg – Normen, Konventionen und Verhaltensregeln werden ausgelöscht

Wir stehen an der Schwelle von etwas, das man Chaotischen Krieg nennen könnte. Nicht das, was Israel oft in der Vergangenheit benutzte, um Gegner einzuschüchtern. Das ist etwas anderes.

Der israelische Reporter Eddie Cohen sagte nach dem Angriff auf das iranische Konsulat: „Wir sagen klipp und klar, dass wir einen Krieg mit dem Iran und Hisbollah wollen. Habt Ihr das immer noch nicht verstanden?“

Israel will den Iran in einen umfassenden Krieg ziehen, damit wir in der Lage sind, die Atomanlagen des Iran anzugreifen“, obwohl diese Anlagen außerhalb der Reichweite Amerikas und Israels liegen, versteckt unter den Bergen.

Cohen und die militärische Führung Israels wissen das natürlich; aber Israel bedient sich trotzdem einer Logik, die nur zu einer Niederlage führen kann. Irans Nuklearanlagen sind vor israelischen Angriffen sicher. Die Zerstörung iranischer Zivilstruktur, die offen zutage liegt, mag viele töten, aber es wird nicht an sich zum Kollaps des iranischen Staates führen.

Trita Parsi stellt Israels Ziele mit dem Angriff auf das iranische Konsulat in Damaskus in einen anderen Zusammenhang:

Ein wichtiger Aspekt bei Israels Verhalten – und das Schweigen von Biden – ist, dass Israel einen absichtlichen und systematischen Versuch unternimmt, bestehende Gesetze und Normen rund um Kriegsführung zu zerstören.

Selbst in Kriegszeiten sind Botschaften tabu, [dennoch] hat Israel gerade eine diplomatische Einrichtung in Damaskus bombardiert.

Die Bombardierung von Krankenhäusern ist ein Kriegsverbrechen, [dennoch] hat Israel jedes einzelne Krankenhaus in Gaza bombardiert. Sie haben Ärzte und Patienten in den Krankenhäusern ermordet.

Der IGH verpflichtete Israel dazu, humanitäre Hilfe nach Gaza zuzulassen. Israel verhindert aktiv, dass Hilfe hereinkommt.

Das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung ist nach internationalem Menschenrecht verboten. Israel hat in Gaza absichtlich eine Hungernot erzeugt.

Wahllose Bombardierungen sind nach internationalem Menschenrecht illegal. Biden selbst hat zugegeben, dass Israel Gaza wahllos bombardiert.“

Die Liste lässt sich endlos fortsetzen… Israels Bruch der Immunität gemäß der Wiener Konvention, wie sie nach diplomatischen Prämissen festgelegt ist – einschließlich dem Status der Getöteten – ist sehr bedeutend. Es ist ein deutliches Signal: Israel will Krieg – aber natürlich mit der Unterstützung der USA.

Israels Ziel ist es zunächst, die Normen, Konventionen und Gesetze der Kriegsführung zu zerstören; eine geopolitische Anarchie zu erzeugen, in der alles erlaubt ist und, während das Weiße Haus frustriert dabei zusieht, wie jede Verhaltensnorm mit Füßen getreten wird, es Netanyahu erlaubt, die USA beim Zaumzeug zu greifen und das Weiße Haus-Pferd zum Wasser zu führen – zu seinem regionalen „Großen Sieg“ der Endzeiten, einem notwendigerweise brutalen Krieg – jenseits existierender roter Linien und ohne Grenzen.

So symbolisch wichtig wie der Damaskus-Angriff ist, dass die USA, Frankreich und Britannien – nach einem kurzen „Anerkennen“ der Wiener Konvention –sich weigerten, die Zerstörung des iranischen Konsulats zu verurteilen. Damit wird die Immunität diplomatischer Einrichtungen in Zweifel gezogen.

Damit geht einher, dass die Verweigerung einer Verurteilung weltweit als eine stille Billigung der ersten zögerlichen Schritte Israels hin zu einem Krieg mit Hisbollah und dem Iran verstanden wird.

Dieser israelische, chaotische und „biblische“ Nihilismus hat nach rein rationalen Gesichtspunkten nichts mit Netanyahus Drang nach einem „Großen Sieg“ zu tun. Die Realität ist, dass Israel seine Abschreckungskraft verloren hat. Und sie wird auch nicht wiederkommen. Der tiefe Zorn in der gesamten islamischen Welt, der während der vergangenen sechs Monate durch die Massaker Israels in Gaza ausgelöst wurde, schließt das aus.

Dennoch gibt es einen zweiten, dazu gehörenden Grund, warum Israel absichtlich das Menschenrecht und die Normen missachtet: Der israelische Journalist Yuval Abraham berichtet im Magazin +972 ausführlich, wie Israel eine KI-Maschine (genannt „Lavender“) entwickelt hat, die eine Tötungsliste für Gaza erstellt – nahezu ohne menschliche Nachprüfung, nur „durchgewunken“ mit einem 20 Sekunden Check, um sicherzustellen, dass das KI-Ziel männlich ist (da man weiß, dass Frauen nicht den Milizen des Widerstands angehören).

Die eklatante Gesetzlosigkeit hinter der Methodik der „Tötungsliste“ für den Gazastreifen,
wie sie von Abrahams verschiedenen Quellen berichtet wird, kann nur immunisiert und
und geschützt werden, indem man sie als eines von mehreren allgemeinen Mustern
von Rechtswidrigkeiten normalisiert und schützt – und im Grunde eine souveräne Ausnahmestellung behauptet wird:

„Die israelische Armee greift systematisch Personen in ihren Häusern an – normalerweise nachts, wenn die ganze Familie anwesend ist – und nicht während einer militärischen Aktivität …
Zusätzliche automatische Systeme, darunter eines, das [kaltschnäuzig]
„Where’s Daddy?“ genannt wird, wurden eingesetzt – speziell um Zielpersonen zu verfolgen, wenn sie das Haus ihrer Familie betraten … Wenn jedoch ein Haus angegriffen wurde, meist nachts, war die Zielperson manchmal gar nicht im Haus“.

„Das Ergebnis ist, dass Tausende von Palästinensern – die meisten von ihnen
Frauen und Kinder oder Menschen, die nicht an den Kämpfen beteiligt waren – durch israelische Luftangriffe ausgelöscht wurden, insbesondere in den ersten Wochen
des Krieges, aufgrund der Entscheidungen des KI-Programms.


„Wir waren nicht daran interessiert, [Hamas]-Aktivisten zu töten, wenn sie sich in einem militärischen Gebäude befanden … oder einer militärischen Aktivität nachgingen“, sagte A., ein Geheimdienstler, gegenüber +972 und Local Call. „Im Gegenteil, die IDF haben sie ohne zu zögern in ihren Häusern bombardiert – als erste Option. Es ist viel einfacher, das Haus einer Familie zu bombardieren. Das System ist so aufgebaut, dass es in solchen Situationen nach ihnen sucht“.

„Darüber hinaus … zog es die Armee vor, bei der Bombardierung von mutmaßlichen militanten Jugendlichen, die von Lavender markiert wurden, nur ungelenkte Raketen zu verwenden, die gemeinhin als „dumme“ Bomben bekannt sind (im Gegensatz zu „intelligenten“ Präzisionsbomben), die ganze Gebäude mitsamt ihren Bewohnern zerstören und erhebliche Verluste verursachen können. „Man will keine teuren Bomben an unwichtige Leute verschwenden – das ist sehr teuer für das Land, und es gibt einen Mangel [an diesen Bomben]“.

„… Die Armee beschloss in den ersten Wochen des Krieges auch, dass für jeden von Lavender markierten Hamas-Aktivisten bis zu 15 oder 20 Zivilisten getötet werden durften … für den Fall, dass es sich bei der Zielperson um einen hochrangigen Hamas-Funktionär im Rang eines Bataillons- oder Brigadekommandeurs handelte – die Armee genehmigte bei mehreren Gelegenheiten die Tötung von mehr als 100 Zivilisten bei der Ermordung eines einzigen Kommandeurs“.

„Lavender – ein Programm, das entwickelt wurde, um menschliche Ziele im gegenwärtigen Krieg zu schaffen – hat etwa 37.000 Palästinenser als mutmaßliche „Hamas-Kämpfer“ markiert, die meisten von ihnen im Nachwuchsbereich, um sie zu ermorden (der IDF-Sprecher bestritt die Existenz einer solchen Tötungsliste in einer Erklärung gegenüber +972 und Local Call).

Kein Wunder also, dass Israel versucht, die Details in einer allgemeinen Reihe von Verstößen gegen das humanitäre Recht zu verschleiern: „Sie wollten uns erlauben, [die Nachwuchsagenten] automatisch anzugreifen. Das ist der Heilige Gral. Sobald man auf Automatik umsteigt, wird die Zielgenerierung verrückt“.

Man muss nicht lange spekulieren, wie der Internationale Gerichtshof das einschätzen würde…

Kann sich irgendjemand vorstellen, dass diese fehlerhafte Lavender-KI-Maschine nicht aufgefordert werden würde, ihre Tötungslisten zu erstellen, wenn Israel beschließen würde, in den Libanon vorzustoßen? (Ein weiterer Grund für die Normalisierung der Verfahren zunächst in Gaza).

Der wichtigste Punkt in dem Bericht des Magazins +972 (mit mehreren Quellen) ist, dass sich die IDF nicht auf die punktgenaue Eliminierung der Qassam-Brigaden der Hamas konzentriert haben (wie behauptet):

„Es war für mich sehr überraschend, dass wir gebeten wurden, ein Haus zu bombardieren, um einen Bodensoldaten zu töten, dessen Bedeutung in den Kämpfen so gering war“, sagte eine Quelle über den Einsatz von KI, um angebliche niederrangige Kämpfer zu markieren:

„Ich nannte diese Ziele ‚Müllziele‘. Dennoch fand ich sie ethischer als die Ziele, die wir nur zur ‚Abschreckung‘ bombardierten – Hochhäuser, die evakuiert und zum Einsturz gebracht werden, nur um Zerstörung zu verursachen“.

In diesem Bericht wird die Behauptung Israels, 19 von 24 Hamas-Bataillonen aufgelöst zu haben, eindeutig als Unsinn bezeichnet: Eine Quelle, die Lavenders Ungenauigkeit kritisiert, weist auf den offensichtlichen Fehler hin: „Es ist eine vage Grenze“; wie kann man einen Hamas-Kämpfer von einem anderen männlichen Zivilisten im Gazastreifen unterscheiden?

„In der Spitze konnte das System 37.000 Personen als potenzielle menschliche Ziele identifizieren“, so B. „Aber die Zahlen änderten sich ständig, denn es hängt davon ab, wo man die Messlatte für einen Hamas-Aktivisten ansetzt. Es gab Zeiten, in denen ein Hamas-Aktivist breiter definiert wurde, und dann begann die Maschine, uns alle Arten von Zivilschutzpersonal und Polizeibeamten zu liefern, für die es eine Schande wäre, Bomben zu verschwenden“.

Erst letzte Woche wurde das Mitglied des Kriegskabinetts und Minister Ron Dermer nach Washington delegiert, um dafür zu plädieren, dass der Erfolg der IDF bei der Zerschlagung von 19 Hamas-Bataillonen einen Einmarsch in Rafah rechtfertige, um die 4 bis 5 Bataillone zu zerschlagen, die sich nach israelischen Angaben noch in Rafah befinden.

Klar ist, dass KI ein zentrales Instrument Israels für seinen „Sieg“ im Gazastreifen war. Israel wollte eine „Schall und Rauchgeschichte“ auf der Grundlage von „Lavender“ verkaufen.

Im Gegensatz dazu haben die Palästinenser, die sich ihrer quantitativen Unterlegenheit bewusst sind, eine ganz andere Sichtweise: Sie sind zu einer neuen Denkweise übergegangen, die dem einfachen Akt des Widerstands eine zivilisatorische Bedeutung verleiht – einen Weg zum metaphysischen Sieg (und sehr wahrscheinlich eine Art militärischen Sieg), wenn nicht zu ihren Lebzeiten, dann für das palästinensische Volk danach. Dies macht den asymmetrischen Charakter des Konflikts aus, den Israel nie zu verstehen vermochte.

Israel will gefürchtet werden, weil es glaubt, dass dies seine Abschreckung wiederherstellen wird. Amira Hass schreibt, dass unabhängig von jeglicher Abscheu für diese Regierung und ihre Mitglieder „die große Mehrheit [der Israelis] immer noch glaubt, dass Krieg die Lösung ist“. Und Mairav Zonszein schreibt in Foreign Policy: „Das Problem ist nicht nur Netanjahu, es ist die israelische Gesellschaft„:

„Der Fokus auf Netanyahu ist eine bequeme Ablenkung von der Tatsache, dass der Krieg in Gaza nicht Netanyahus Krieg ist, sondern Israels Krieg – und das Problem ist nicht nur Netanyahu, sondern die israelische Wählerschaft … Eine große Mehrheit von 88 Prozent der jüdischen Israelis, die im Januar befragt wurden, glaubt, dass die erstaunliche Zahl der palästinensischen Todesopfer, die zu diesem Zeitpunkt 25.000 überschritten hatte, gerechtfertigt ist. Eine große Mehrheit der jüdischen Öffentlichkeit ist auch der Meinung, dass die [IDF] in Gaza angemessene oder sogar zu wenig Gewalt anwendet … Dem Premierminister die ganze Schuld zuzuschieben, geht am Thema vorbei. Es lässt die Tatsache außer Acht, dass die Israelis das System der militärischen Besatzung und der Entmenschlichung der Palästinenser in ihrem Land lange Zeit gefördert, ermöglicht oder sich damit abgefunden haben“.

Doch weder Israel noch die USA haben eine umfassende Strategie für diesen geplanten Krieg. Israels Ansatz ist rein taktisch – es behauptet, die Hamas degradiert zu haben, den Gazastreifen in eine humanitäre Hölle zu verwandeln und die Bühne für den „entscheidenden Plan“ zu bereiten, den Bezalel Smotrich für die Palästinenser entworfen hat. Nochmals Amira Hass:

„Entweder man akzeptiert einen minderwertigen Status, wandert aus und wird scheinbar freiwillig entwurzelt, oder man wird in einem Krieg besiegt und getötet. Das ist der Plan, der jetzt im Gazastreifen und im Westjordanland umgesetzt wird – mit den meisten Israelis als aktiven und begeisterten Komplizen oder mit passiver Duldung seiner Verwirklichung“.

Die „Vision“ der USA ist ebenfalls taktisch (und weit von der Realität entfernt): Sie stellen sich die Umwandlung des Gazastreifens in einen „Vichy-Kollaborateur“-Staat vor; sie stellen sich vor, dass politischer Druck der Franzosen im Libanon den Rückzug der Hisbollah aus ihren angestammten Gebieten im Südlibanon erzwingen wird; und sie stellen sich vor, dass das Weiße Haus unter Biden in der Lage ist, durch politischen Druck das zu erreichen, was Israel militärisch nicht erreichen kann.

Das Paradoxe daran ist, dass die Abhängigkeit Israels und der USA von einem „Image“, das mit der Realität verwechselt wurde, auch dem Iran und der Widerstandsfront zum Vorteil gereicht. (Ein altes Sprichwort besagt, dass man einen Gegner, der Fehler macht, nicht stören sollte).