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REUTERS/Lucas Jackson

Harvard-Studie: Wer näher an Fracking-Standorten wohnt, stirbt früher

Von Werner Rügemer: Er ist Deutscher Kommentator, Dozent und Schriftsteller. Er gilt als einer der führenden „intervenierenden Philosophen“.

Nicht nur im fernen Afghanistan, sondern auch in den USA selbst sterben Menschen für die steigenden Gewinne von BlackRock.

Im Januar 2022 veröffentlichte die Harvard-Universität die Ergebnisse einer Studie: Menschen über 65, die in der Nähe von Fracking-Standorten in den USA leben, sterben früher als Menschen, die nicht in einer solchen Gegend wohnen. Fracking wird in den USA schon seit Jahrzehnten praktiziert. Die Umweltschäden sind hinlänglich bekannt. Aber jetzt wurde zum ersten Mal untersucht: Sterben Menschen daran?

Die aufwendige Studie wurde von 10 Forschern unter der Leitung von Longxiang Li an der School of Public Health der Eliteuniversität Harvard durchgeführt: Exposition gegenüber unkonventioneller Öl- und Gaserschließung und Gesamtmortalität bei Medicare-Begünstigten. Die Studie wurde am 17. Juli 2020 abgeschlossen und am 27. Januar 2022 in der Zeitschrift Nature Energy veröffentlicht. Bereits im August 2021 wurde die Studie auf der Jahrestagung der Internationalen Gesellschaft für Umweltepidemiologie (ISEE) vorgestellt. Jeder, der es wissen wollte, konnte es also wissen. Die US-Regierung und die deutsche Regierung und die Europäische Union, die wegen des Russland-Boykotts nun viel mehr US-Fracking-Gas bestellt haben.

2,5 Millionen Fracking-Bohrstellen

Untersucht wurden die Gesundheitsdaten von 15 Millionen (15.198.496, um genau zu sein) US-Bürgern über 65 Jahren, die eine Gesundheitsversorgung durch das Bundesprogramm Medicare erhalten und in der Nähe von Fracking-Standorten leben. Diese Gesundheitsdaten wurden mit denen anderer US-Bürger dieser Altersgruppe verglichen, die nicht in solchen Gegenden leben. Da 95 Prozent der über 65-Jährigen in den USA durch Medicare abgedeckt sind, hat die Studie eine hohe Aussagekraft.

Gesundheitsdaten wurden an mehr als 100.000 Fracking-Standorten in den Jahren 2001 bis 2015 erhoben, an denen insgesamt etwa 2,5 Millionen Bohrungen durchgeführt wurden. Die Standorte befinden sich in allen wichtigen Fracking-Regionen der USA: von North Dakota bis New Mexico, im Osten von New York bis Virginia und im Süden zwischen Texas und Missouri.

Fracking: Umweltschädlich – natürlich!

Unkonventionelle Öl- und Gasförderung: Das ist Fracking. Dabei werden Gesteinsschichten in großer Tiefe unter hohem hydraulischem Druck mit Sand, Wasser, Chemikalien und anderen Zusätzen aufgesprengt. Dadurch können Gas und Öl entweichen und anschließend aufgefangen werden.

Dass dabei Luft, Grundwasser, Flüsse, Seen, Trinkwasser, Pflanzen und Tiere vergiftet werden und die Gesundheit der Menschen geschädigt wird – all das ist eigentlich seit Jahren weltweit bekannt. Tausende von Bürgerinitiativen, Wissenschaftlern, Gemeinderäten organisieren seit drei Jahrzehnten zwischen Kalifornien und Wyoming den Widerstand – meist vergeblich und von den politischen Medien geleugnet.

Die Studie zitiert zahlreiche Studien, die diese Erkenntnisse bestätigen: Die Umgebungsluft enthält flüchtige organische Verbindungen, Stickoxide und natürliche radioaktive Stoffe, die durch Bohrungen freigesetzt werden. Die Bohrstellen emittieren auch organische Verbindungen, Chloride und Schwebstoffe. Darüber hinaus entweicht beim Fracking unkontrolliert Methangas, das noch klimaschädlicher ist als CO2. Zu den bekannten gesundheitlichen Auswirkungen gehören Schädigungen der Schwangerschaft, der Atemwege, der Herzmuskulatur und die Zunahme von Krebserkrankungen – all das ist seit langem bekannt.

Aber nicht nur schädlich für die Umwelt, sondern tödlich

In der Harvard-Studie wurde jedoch erstmals die Frage gestellt: Verursacht Fracking auch Todesfälle? Die Antwort: Ja: ein signifikant erhöhtes Risiko für die Gesamtmortalität.

Fracking ist also nicht nur schädlich für die Umwelt, sondern auch tödlich für die Menschen. Je näher sie an Fracking-Bohrstellen wohnen, desto eher sterben sie. Die erhöhte Sterblichkeitsrate liegt bei 2,5 Prozent, aber bei 3,5 Prozent in Wohngebieten in Windrichtung von Bohrstellen. Für die Studie wurden 136 Millionen (genauer: 136.215.059) Personenjahre herangezogen – 2,5 Prozent davon wären etwa vier Millionen Lebensjahre, die man hätte leben können, die aber durch Fracking zerstört wurden.

Die Sterberaten sind in windabgewandten Gebieten etwas höher als in windaufwärts gelegenen. Dies ist auf die Vergiftung der Atmosphäre zurückzuführen. Aber das ist nur eine der Ursachen für Krankheit und Tod. Auch die Vergiftung von Wasser und Boden, der intensive LKW-Verkehr mit Dieselabgasen, Lärm, nächtliche Dauerblendung usw. spielen eine Rolle.

Aber was ist mit den Fracking-Arbeitern?

Die Studie hat sich nicht mit Menschen unter 65 Jahren befasst. Auch dort gibt es „gefährdete Gruppen“ wie Säuglinge oder auch – wie im Fall des Corona-Virus – Menschen mit chronischen Krankheiten, die in den USA bekanntlich in großer Zahl in jungen Jahren beginnen.

Und eine weitere, besonders wichtige Gruppe ist nicht untersucht worden, nämlich die Menschen, die den gefährlichen und giftigen Emissionen am unmittelbarsten ausgesetzt sind: Die Arbeiter an den Bohrstellen selbst, einschließlich der Fahrer, die die Chemikalien, Hilfsstoffe und riesige Mengen Wasser in Pick-ups und Lastwagen anliefern und abtransportieren. Doch die Fracking-Unternehmen setzten Ausnahmeregelungen gegen die Arbeitsschutzbehörde OSHA durch, wie z. B., dass die Bohranlagen bei Reparaturen nicht abgeschaltet werden müssen.

Auf Nachfrage erklärte der Leiter der Untersuchung: Wir haben das nicht untersucht, und uns sind keine Studien über die Auswirkungen auf die Gesundheit und die Todesfälle von Arbeitern an Fracking-Standorten bekannt.

Und die Klima- und Umweltbewegung im US-geführten Kapitalismus – Fridays for Future, Greenpeace, die UNO, die Europäische Union, die Grünen – wie es den abhängig Beschäftigten geht, auch in den direkt umweltrelevanten Unternehmen, wie hier in der Fracking-Industrie – Fehlanzeige.

Beschleunigte Produktion

Das Fracking-Verfahren wurde in den 1940er Jahren in den USA entwickelt, vor allem von Halliburton. Aber erst um die Jahrtausendwende wurde die Förderung in großem industriellen Maßstab forciert: Die USA wollen unabhängig von Öl- und Gasimporten werden. Der große Treiber war US-Vizepräsident Dick Cheney, zuvor CEO von Halliburton. Er setzte durch, dass sich die Fracking-Unternehmen nicht an den Safe Drinking Water Act halten mussten (Halliburton-Schlupfloch“).

In dem von der Studie abgedeckten Zeitraum von 2001 bis 2015 haben die Fracking-Unternehmen die Zahl der Standorte mehr als verzehnfacht, von etwa 10.000 auf mehr als 100.000. Die Studie berücksichtigt also noch nicht einmal die Beschleunigung des Frackings, die sich nach 2015 nochmals beschleunigt hat. Diese zusätzliche Beschleunigung wurde unter anderem durch den Bau der russisch-deutschen Gaspipeline Nordstream 2 ausgelöst, die von der US-Fracking-Industrie und damit auch von den US-Regierungen bekämpft wird, egal ob der Präsident Obama, Trump oder Biden heißt.

Von 2015 bis 2020 wurde die Zahl der Fracking-Standorte auf 160.000 erhöht. So hat die Fracking-Industrie von 2000 bis 2018 die Produktion von 243 Milliarden Kubikfuß auf 3,61 Billionen Kubikfuß mehr als verzehnfacht. Die Exporte gehen bis heute in 33 Staaten.

Mehr Schäden als in der Harvard-Studie erfasst

Auch in dieser Hinsicht hat die Harvard-Studie also nicht das volle aktuelle Ausmaß des Fracking in den USA erfasst.

Die Beschleunigung seit 2015 besteht auch darin, dass noch mehr Bohrungen am gleichen Standort durchgeführt werden als zuvor: Über 50 Bohrungen am gleichen Standort (Mega-Pads) sind keine Seltenheit mehr.

Dadurch steigen auch die Menge und die Konzentration der Giftstoffe an diesen Standorten und damit in den Wohngebieten über das hinaus, was in der Harvard-Studie untersucht wurde.

Hoher Energieverbrauch: Neue und teure fossile Brennstoffe

Die Förderung von Fracking-Gas ist nicht nur umweltschädlich, sondern erfordert auch viel mehr Energie als die herkömmliche Öl- und Gasförderung, beispielsweise in Russland.

Und nicht nur die Förderung erfordert mehr Energie, sondern die gesamte übrige Lieferkette: Ein hoher Energieaufwand wird zunächst für die Verflüssigung des Gases auf ein Sechshundertstel seines früheren Volumens verwendet. Dann folgt der nächste hohe Energieaufwand: Das verflüssigte Gas muss während des transatlantischen und transpazifischen Transports auf minus 162 Grad Celsius gekühlt werden.

Und auch der Bau der technisch aufwendigen Terminals erfordert neben den Rohstoffen viel Energie, ebenso wie die Lagerung und Wiederverdampfung.

Dieser zusätzliche, vielfältige Energieeinsatz, zusammen mit den dafür noch benötigten Rohstoffen (für Förderung, Schiffe und Terminals), stellt eine neue und ebenfalls teure fossile Energiewirtschaft dar. Die US-Regierung fördert den Bau neuer Kernkraftwerke, und die EU hat die Kernenergie inzwischen für „nachhaltig“ erklärt. Die Nachfrage nach Kohle steigt – Windräder und Solarkraftwerke können da nicht mithalten, auch weil die beschleunigte Digitalisierung viel mehr Energie braucht als bisher, für E-Mobilität, für Clouds, für künstliche Intelligenz in Unternehmen, Krankenhäusern, Schulen, Universitäten….

So erweist sich die Umweltpolitik der EU und der USA als noch viel umweltschädlicher als die bisherige Umweltpolitik, und auch viel teurer, und schließlich tödlich für die Menschen.

Es handelt sich auch um einen unausgesprochenen Klassenkampf: Die Unternehmen wählen gezielt Standorte in der Nähe von armen Gemeinden aus, die ein geringeres Einkommen haben und in denen mehr farbige Menschen leben, so die Harvard-Studie. Diese sind ohnehin schon gesundheitlich geschwächt – und dann kommt auch noch Fracking dazu.

Kollektive Selbstverblendung

Die EU und insbesondere die deutsche Regierung sind besonders „umweltbewusst“. Sie haben den neuen westlichen Wertekanon etabliert: ESG. E = Umwelt, S = Soziales, G = gute Regierungsführung. Sie alle schauen bewundernd nach Harvard, zum Beispiel der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der hier zweimal studiert und dann seinen zweiten Doktortitel erworben hat, am Institut für Public Health und dann an der Medizinischen Fakultät – aber Augen zu und durch: Kollektive Selbstblindheit.

Bei „Corona“ berufen sie sich auf den Schutz „gefährdeter Gruppen“ – aber die gefährdeten Gruppen an den Fracking-Standorten – sie dürfen für das neue Gas gnadenlos sterben.

Sie befinden sich in „guter Gesellschaft“: Nach Angaben des Leiters der Harvard-Studie haben alle führenden US-Medien wie die New York Times, die Los Angeles Times, der Boston Globe, das Wall Street Journal und die Washington Post nicht über die Studie berichtet.

Umweltschützer BlackRock in der US-Regierung

Wo wir gerade dabei sind: Der führende Umwelt- und Nachhaltigkeitsmahner des kapitalistischen Westens unter Führung der USA, Laurence Fink, kümmert sich offenbar auch nicht um die Fracking-Toten. Fink ist Chef von BlackRock, dem größten Kapitalvermittler der westlichen Welt, mit Sitz in New York und Propagandist des ESG-Wertekanons. Auch von hier kein Wort zur Harvard-Studie.

BlackRock hat drei hochrangige Manager in der US-Regierung von Präsident Biden. (1) Der frühere Leiter der BlackRock-Abteilung für nachhaltiges Investieren ist jetzt der Chefökonom der Regierung. Sie fördert das Fracking, das nun durch den Russland-Boykott weiter vorangetrieben wird.

Und BlackRock & Co sind nicht nur die Hauptaktionäre der US-Rüstungsindustrie, die derzeit klammheimlich ihre Gewinne aus 20 Jahren Krieg in Afghanistan abrechnen. BlackRock & Co sind auch führende Aktionäre in der US-amerikanischen Fracking-Industrie, wie EOG Resources, Devon Energy, Tellurian, Cheniere und die größten Fracking-Ausrüster Halliburton, Schlumberger und Baker Hughes. Für die steigenden Gewinne der Umweltschützer von BlackRock sterben nicht nur Menschen im fernen Afghanistan, sondern auch ihre eigenen Bürger in den USA selbst.

Und die übereifrige Käuferin von US-Fracking-Gas, Kommissionspräsidentin von der Leyen – mit Biden vereinbarte sie eine Verdreifachung der LNG-Importe – lässt sich bei der Umsetzung des neuen Wertekanons ESG von niemand anderem als BlackRock beraten.

Faktenleugner, Feinde der Wissenschaft. Transatlantisch organisierte Selbstverblendung mit (mehrfach) tödlichem Ausgang.