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Im Inneren des Digital-Identitäts-Experiments der Ukraine

Die Ukraine mag das Testlabor sein, aber der Bauplan wird still und leise ins Ausland exportiert.

Christina Maas

Die Ukrainer Roman Lozynskyi und Svitlana Kisilova heirateten im Juni 2024, und kein einziger Bürokrat musste einen Stempel setzen. Kein Papier, keine peinlichen Fototermine. Nur ein paar Wischbewegungen in der ukrainischen Diia-App und ein paar digitale Signaturen – und boom, rechtsverbindliche Ehe.

In einem Land, das gleichermaßen von Krieg und Bürokratie gezeichnet ist, zählt eine solche Effizienz praktisch als romantisch.

Die App, kurz für „Derzhava i Ja“ (Der Staat und Ich), wird als glänzende, strahlende Zukunft der Verwaltung vermarktet.

Eine elegante digitale Schnittstelle, über die man Steuern zahlen, ein Unternehmen registrieren, Hilfen beantragen und nun auch heiraten kann – ohne jemals ein Regierungsbüro betreten zu müssen.

Es beginnt damit, dass ein Partner sich bei Diia einloggt und einen Heiratsantrag verschickt: kein Ring notwendig, nur eine Benachrichtigung, die über den Messenger-Dienst der Wahl des anderen Partners aufploppt. Wenn dieser Partner nicht innerhalb von 14 Tagen antwortet, läuft alles ab – wie ein schlechtes Match in einer Dating-App.

Wenn die Antwort ja lautet, hat das Paar 12 Stunden Zeit, seine persönlichen Daten einzureichen. Man könnte es als Speedrun durch ein Regierungsformular sehen – nur dass man nicht um eine Genehmigung bittet, sondern einen rechtsverbindlichen Lebensvertrag eingeht.

Sobald die Informationen eingereicht sind, bietet die Plattform die frühestmöglichen Termine für die Registrierung an. In der Theorie könnte man also an einem Montag den Antrag stellen und am Wochenende bereits verheiratet sein.

Am gewählten Tag erhält das Paar einen Link, um an einer 30-minütigen Videotrauung über Webex teilzunehmen. Ja, genau dieses Webex, das der Chef für Status-Meetings nutzt. Nach Abschluss der Zeremonie erscheint innerhalb von 24 Stunden eine digitale Heiratsurkunde in der App.

Von westlichen Thinktanks wird das in einem Ton beschrieben, den sie sonst für IWF-Kreditvereinbarungen oder CO₂-Kompensationen reservieren.

Die Brookings Institution nannte es „essenziell“ für die ukrainische Widerstandsfähigkeit im Krieg. Was in der Sprache der Thinktanks dem Streuen von Rosen gleichkommt.

Doch so viele Funktionen in einer staatlich kontrollierten Plattform zu bündeln, weckt Bedenken – auch wenn das Marketing das Gegenteil behauptet.

Diia speichert Daten technisch gesehen nicht auf eigenen Servern; es nutzt ein Datenaustauschnetzwerk, das auf Trembita und Vulyk basiert, von dem Befürworter behaupten, es sei dezentral genug, um sicher zu sein.

Das ist es nicht. Die Verschiebung der technischen Architektur ändert nichts an den Machtverhältnissen. Die App bleibt das eine Tor zu allem. Man muss keine Daten speichern, um den Zugang zu kontrollieren.

Über 100 Register speisen sich inzwischen ins System ein. Diese Art von Integration klingt großartig auf einem Tech-Gipfel. In der Realität bedeutet es, dass der Staat eine Master-Konsole für das Bürger-Management geschaffen hat.

Effizienz, ja. Aber auch eine zentrale Schnittstelle, über die die Regierung alles überwachen, verifizieren oder stillschweigend den Zugang verweigern kann – von Finanzdienstleistungen bis hin zur rechtlichen Anerkennung.

Die digitale Infrastruktur der Ukraine entstand nicht zufällig. Zwischen 2016 und 2020 wurden die meisten öffentlichen Register digitalisiert. 2020 wurde Diia mit voller staatlicher Unterstützung eingeführt – aggressiv als Flaggschiff für „digital-first governance“ vermarktet.

Befürworter verweisen gerne auf Resilienz, besonders im Krieg. Sie nennen die Architektur von Trembita als Beweis dafür, dass das System auch einen Raketenangriff überstehen könne.

Aber die verteilten Register ändern nichts daran, dass der Zugangspunkt für die Öffentlichkeit, Diia, zentralisiert ist. Und genau dort liegt die Macht. Nicht im Backend-Register, sondern bei denen, die die Schlüssel halten.

Diia geht längst über Steuern, Lizenzen und Notfallmeldungen hinaus. Das System hat sich ins Bildungswesen ausgedehnt, mit Plattformen wie Diia.Osvita und der Mriia-App für Schüler.

Diese Tools bieten Fernunterrichtsfunktionen und stellen digitale Schülerausweise aus. Mit anderen Worten: Der Staat führt Minderjährige in dieselbe Infrastruktur ein, die auch für Wehrpflicht und Steuererklärungen genutzt wird.

Wenn dein Schülerausweis im selben System lebt, das deine Wehrpflicht-Eignung nachverfolgt, braucht man kein Zyniker zu sein, um die Zukunft vorgezeichnet zu sehen.

Die Zahlen sind beeindruckend – zumindest auf dem Papier. Mehr als 21,7 Millionen Ukrainer nutzen Diia. Es bietet inzwischen Zugang zu 14 digitalen Dokumenten und 21 öffentlichen Diensten direkt in der App, mit über 70 weiteren über das Portal.

Diese Reichweite, mitten im Krieg erreicht, wird als Erfolgsgeschichte gefeiert. Aber sie zeigt auch, wie schnell eine ganze Gesellschaft hinter eine digitale Glasscheibe gedrängt werden kann, wenn die richtige Krise die Bahn freimacht.

Doch bevor jemand Diia für einen Nobelpreis in Verwaltungswissenschaften nominiert, sollte man innehalten und betrachten, was es wirklich ist.

Es ist keine App.

Es ist der Staat in deiner Tasche, der höflich lächelt, während er alles beobachtet, was du tust – und es ist das Modell, das andere Länder kopieren wollen.

Immerhin hatten sowohl die USA als auch Großbritannien großen Anteil an der Finanzierung.

Internationale Förderer

Einer der konsequentesten Unterstützer war die schwedische Regierung, die das DIA Support Project über ihre Entwicklungsagentur SIDA finanziert.

Dieses Projekt wird vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) umgesetzt und sorgt dafür, dass schwedische Mittel in digitale Dienste fließen, die „inklusiver“ und „zugänglicher“ werden sollen.

Auch die Vereinigten Staaten spielten eine bedeutende Rolle durch USAID, dessen „Digital Transformation Activity“-Programm die Expansion von Diia unterstützte und in die breiteren Regierungsreformen der Ukraine integrierte.

Anfang 2025 setzte oder stoppte USAID jedoch Teile seiner Finanzierung des Ministeriums für digitale Transformation, was Fragen zur finanziellen Stabilität der Plattform aufwarf.

Das Vereinigte Königreich ergänzte dieses Engagement, indem UK International Development gemeinsam mit USAID die „Digital Transformation Activity“ mitfinanzierte.

Während UNDP selbst kein Geldgeber ist, fungierte es als zentraler Umsetzungspartner, der Ressourcen aus Schweden und anderen Quellen koordinierte.

Zusammengenommen machen diese internationalen Unterstützungsströme deutlich, dass Diia nicht einfach ein nationales Projekt ist, sondern eine geopolitische Investition, die das ausländische Interesse an der digitalen Staatlichkeit der Ukraine widerspiegelt.

Die Ukraine mag das Versuchsfeld sein – aber das Diia-Modell ist genau das, worauf andere Regierungen „sabbern“: eine zentrale Plattform der digitalen Autorität, getarnt als Bequemlichkeit.

Und wenn USAID hinter etwas steht, kann man sicher sein: Es geht nicht nur um die Ukraine. Es geht um den Exportplan.

Was ein digitales ID-System ermöglicht:

  • Verfolgung jeder Online-Aktivität. Wenn deine ID mit deiner Internetnutzung verbunden ist, können Staat oder beauftragte Konzerne dich in Echtzeit überwachen.
  • Finanzielle Ächtung. Politisch unbequem? Der Staat muss keine Polizei schicken – er kappt einfach den Zugang zu Banken und Dienstleistungen.
  • Algorithmische Kontrolle. IDs an soziale Medien gebunden → Dissens wird unsichtbar gefiltert. Deine Posts werden nicht gelöscht, sondern vergraben – dank eines „Trust Scores“.
  • Geo-Fencing von Opposition. Bewegungsfreiheit wird trivial beschränkt, wenn jede Reise an eine zentrale ID gekoppelt ist. Demonstranten können mit einem Klick im eigenen Viertel festgesetzt werden.

Wenn das nach dystopischer Panikmache klingt, frag die Kanadier, deren Bankkonten während der Trucker-Proteste 2022 eingefroren wurden – und das ganz ohne ein einheitliches Digital-ID-System. Stell dir vor, wie einfach es wird, wenn alles durch ein einziges Portal läuft.

Großbritannien, USA und der Export

Die britische Regierung unter Premierminister Keir Starmer treibt die verpflichtende Digitale ID voran – massiv gepusht vom Tony Blair Institute – und investiert gleichzeitig im Ausland, um das ukrainische Modell zu perfektionieren.

Was in Kiew als „Kriegsresilienz“ vermarktet wird, sieht weit mehr nach einer Live-Demonstration für den Überwachungsstaat unter dem Deckmantel der Krise aus.

Die Digitalisierung wurde erbarmungslos vorangetrieben. Premierminister Zelensky kündigte Diia wenige Monate nach seiner Amtsübernahme an, und im April 2020 wurde es offiziell gestartet.

Anfangs war es nur eine App zum Speichern von Pässen, Führerscheinen und einigen Behördendiensten. „Der Staat im Smartphone“ wirkte für manche effizient und harmlos.

Dann kam Covid. Diia wurde zum System für Impfpässe – mit Bonuszahlung: 1.000 Griwna (ca. 24 Dollar) für jede Impfung, direkt über die App.

Ende 2021 war Diia längst kein Pilot mehr: Es war Teil des Alltags für 13 Millionen Ukrainer – fast ein Drittel der Bevölkerung.

Mit der russischen Invasion im Februar 2022 erreichte die App eine neue Dimension. Wie USAID-Chefin Samantha Power sagte: Diia wurde „für den Krieg umfunktioniert“.

  • Kriegsspenden wurden über die App abgewickelt.
  • Regierungsmedien liefen während Stromausfällen weiter.
  • Verbindung zu Telegram wurde geschaffen, damit Nutzer „verdächtige Aktivitäten“ direkt melden konnten.

Das Feature E-enemy: ein Chatbot, über den Bürger Standorte russischer Truppen, Namen von Kollaborateuren oder Bewegungen des Feindes an die Streitkräfte weiterleiten konnten.

Eine patriotische Umverpackung von Crowd-Intelligence – in Wahrheit wurden Smartphones so zu Staatssurveillance-Werkzeugen.

Daten, Big Tech und Lecks

2020 schloss die Ukraine einen Deal mit Microsoft, um Diia-Infrastruktur in dessen Cloud zu hosten. Wenig später erlaubte das Parlament Amazon, dieselben Daten auch ins Ausland zu transferieren.

Damit wurde das Rückgrat von „Staat im Smartphone“ globalisiert.

Doch Diia war nicht dicht. Seit 2020 wurde die Plattform mehrfach gehackt, Millionen persönlicher Daten verkauft.

Pässe, Telefonnummern, Finanzdaten – Lecks, die jedes andere Programm versenkt hätten, haben Diia kaum gebremst. Internationale Partner lobten es trotzdem weiter als Modell.

Das Tony Blair Institute veröffentlichte 2022 einen Jubel-Artikel, dass Diia „die Grundlage einer neuen Beziehung zwischen Bürgern und Staat gelegt“ habe.

Diese „Beziehung“ bedeutet offenbar, Hacks und Überwachung als Preis der Modernisierung zu akzeptieren.

Im Januar 2024 unterzeichnete das World Economic Forum (WEF) ein Abkommen mit dem Digitalministerium der Ukraine zur Einrichtung eines Zentrums für die 4. Industrielle Revolution in Kiew.

WEF-Direktor Jeremy Jurgens schwärmte: „Wir würdigen die inspirierende Arbeit des Ministeriums.“ Inspirierend – offenbar auch, wenn Bürgerdaten wie ein Sieb durchsickern.

Export nach Westen

So stehen UK-Regierung, USAID, WEF und Tony Blair gemeinsam hinter einem digitalen ID-System, das staatliche Macht mit Big-Tech-Infrastruktur verschmilzt. Was könnte da schon schiefgehen?

Eine Menge. Und wenn das britische Engagement nach mehr als „Hilfe“ aussieht, dann vermutlich, weil es so ist.

2022 unterzeichnete Großbritannien ein Digital-Handelsabkommen mit der Ukraine, das ausdrücklich die Zusammenarbeit bei Digital-Identität enthielt.

Die Ukraine baut den Prototypen, der Westen klatscht Beifall – und wenn die Fehler behoben sind, wird das Modell heimgebracht.

Auch die USA haben offiziell noch kein nationales Digital-ID-System, aber die Vorarbeit läuft.

Nicht durch ein großes Gesetz in Washington, sondern über Bundesstaaten, die Gesetze „zum Schutz von Kindern online“ verabschieden.

Hinter dem Banner steckt: Zentralisierte Identitäts-Infrastruktur durch die Hintertür.

Mehrere Bundesstaaten – Arkansas, Utah, Texas, Louisiana – haben bereits digitale Altersnachweise vorgeschrieben, um Zugang zu Social Media oder Erwachsenen-Inhalten zu bekommen.

Offiziell zum Schutz Minderjähriger, praktisch heißt es: Ohne staatliche Identitätsprüfung kein Internetzugang.

So wird normalisiert, was früher undenkbar war: „Papiere zeigen“ fürs Surfen.

Zwar unterschiedlich umgesetzt, doch der Trend ist eindeutig. Identitätsprüfungen breiten sich aus – ohne Klarheit, wo Daten landen, wer sie kontrolliert, wie lange sie gespeichert bleiben.

Die Gefahr: Diese Stück-für-Stück-Regeln ergeben zusammen ein Hintertür-System für Digital-IDs – ohne offene Debatte.

Die US-Regierung spielt derweil auf Zeit. Kein offizieller Digital-ID-Plan – aber Behörden wie DHS und NIST veröffentlichen still Standards für Identitätsmanagement.

Parallel erproben mehr als ein Dutzend Bundesstaaten mobile Führerscheine (mDLs) – Smartphones als amtliche ID-Speicher. Noch freiwillig, aber der Weg ist klar.

Jedes Detail mag wie eine kleine Verwaltungskorrektur aussehen. Zusammen zeigen sie: Die Zukunft digitaler Teilhabe hängt an verifizierter Identität.

Sobald IDs in die Architektur des Internets eingebaut sind, verschwimmt die Linie zwischen Schutz und Überwachung.

Die USA haben vielleicht noch keine eigene Diia-App – aber das Gerüst steht bereits.