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Ist mit Afghanistan der erste Dominostein gefallen?

Ist mit Afghanistan der erste Dominostein gefallen?

Von Tim Kirby: Er ist ein unabhängiger Journalist, TV- und Radiomoderator.

Afghanistan wirkt wie ein in Stellung gebrachter Dominostein, der nur darauf wartet, dass hinter im weitere Dominosteine platziert werden.

Mit dem abrupten Abzug der USA aus Afghanistan nach rund 20 Jahren wird in der gesamten strategischen Sphäre unter Amateuren wie Profis eine einzige große Frage diskutiert: Ist die amerikanische Niederlage in Afghanistan der erste Dominostein, an dessen Ende der endgültige Zusammenbruch der globalen Hegemonialmacht durch die USA stehen wird? Immerhin ist Afghanistan als der „Friedhof der Imperien“ bekannt, was eine wirklich gut passende Umschreibung für die Tatsache ist, dass auch die Sowjetunion wenige Jahre nach ihrem Abzug aus Afghanistan untergegangen ist. Erleben wir also gerade den berühmten „Anfang vom Ende“, oder wird es auch jenseits von Afghanistan weitergehen?

Vor voreiligen Schlüsse basierend auf engen Erzählpfaden sollte man sich stets hüten, bevor man nicht auch das große Ganze in Betracht gezogen hat. Nutzer, die auch sonst gerne jede Niederlage des „bösen Imperiums“ dieses Jahrhunderts feiern, verbreiten in den Sozialen Medien Bilder, die den Rezipienten den Vergleich zwischen Vietnam und Afghanistan geradezu aufdrängen. Sie scheinen dabei jedoch zu vergessen, dass die Vereinigten Staaten nur wenige Jahrzehnte nach der Niederlage in Vietnam, den Kalten Krieg für sich entscheiden konnten und ab da überhaupt erst die Vorherrschaft über den Planeten übernehmen konnten.

Kein noch so fotogenes Indiz, das uns bei dem Thema entgegenkommt, lässt sich als singulärer Beweis für den Untergang der „einzigen Supermacht“ hernehmen. Der Niedergang des Britischen Empire als Vorgänger der USA als einzige dominante Supermacht erstreckte sich auf den Zeitraum vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten, als die Briten endgültig die strategische Kontrolle über den Planeten verloren. Die UdSSR fiel wesentlich schneller, allerdings ließe sich auch hier der Beginn der Perestroika (oder das Gipfeltreffen von Reykjavik 1986) als die eigentliche weiße Fahne interpretieren, so dass es noch einmal ein halbes Jahrzehnt dauerte, bis die UdSSR ihr Ende fand. Das Ende des Römischen Reiches zog sich sogar noch einmal erheblich länger hin als jenes der beiden modernen Riesengebilde.

Für die geostrategische Debatte bedeutet es, dass nicht Afghanistan als Pivot der weiteren Entwicklung angenommen werden kann, vielmehr gilt es, sich die Frage zu stellen, wie die weiteren Dominosteine aussehen würden, falls der Fall von Afghanistan tatsächlich der erste in jener Reihe war, an dessen Ende die USA ihren globalen Status verlieren werden. Die Frage ist, welche anderen großen Misserfolge/Ereignisse müssten als unmissverständlicher Weise als Anzeichen dafür interpretiert werden, dass die heute noch monopolare Welt gerade im Untergang begriffen ist?

Das Aufgeben des Maidan-Regimes in der Ukraine

Die unerwartete Kapitulation und die anstehende Neugründung Afghanistans unter dem Banner des politischen Islam, wird zweifelsohne in vielen Hauptstädten in Abhängigkeit der USA Fragen um die unmittelbare Zukunft aufgeworfen haben, wobei es vor allem in der Ukraine kritisch werden könnte. Sollte Washington tatsächlich eine fundamentale Trendwende einleiten und das „Nation Building“ trotz langjähriger, multimilliardenteurer Anstrengungen aufgeben, dann ist keineswegs mehr unvorstellbar, dass die USA auch das Regime in Kiev im Stich lassen könnten. Das Land würde sehr schnell in russische Abhängigkeit geraten.

Die Revolution auf dem Maidan von Kiev war für Russland ein bedeutender Stolperstein. Wie Brzezinski schrieb: „Es kann nicht genug betont werden, dass Russland ohne die Ukraine kein Imperium mehr ist.. Mit der unterworfenen und dann untergeordneten Ukraine ist Russland dagegen automatisch ein Imperium.“ Die Art und Weise, wie Washington es schaffte, die gesamte Region in ein wie Putin es kürzlich nannte „Anti-Russland“ zu verwandeln, war überaus beeindruckend.

Sollte das Maidan-Projekt jedoch aufgegeben werden, müsste dies als ein weiterer, ganz massiver Dominostein gewertet werden. Ohne den Schutz der USA wird die Ukraine sehr wahrscheinlich aufgeteilt werden und größtenteils an Moskau gehen. Es würde die Unfähigkeit der USA in Stein meißeln, den Wiederaufstieg Russlands zu verhindern und implizit einer Akzeptanz der globalen Bedeutung Russlands gleichkommen.

Taiwan, Hongkong und/oder Südkorea

Der Sturm von Trumps Außenministerium in Hongkong, das der Kommunistischen Partei die Übernahme der Stadt versauerte, hat sich inzwischen gänzlich gelegt. Sollten die USA hier keine weiteren Anstrengungen unternehmen, wäre auch das ein Dominostein, der gleichzeitig für China ein weiteres Fundament für dessen geopolitische Entwicklung darstellt. Die Aufgabe der Unterstützung von Aktivisten in Hongkong oder ein Rückzug bei der Frage der Unabhängigkeit für Taiwan, wäre ein kaum übersehbares Zeichen der Schwäche und Unfähigkeit seitens Washington.

Und obwohl die KP in Peking nie wirklich warm mit dem Regime in Nordkorea wurde, ist es für Peking seit Jahrzehnten ein Grund zur Sorge, dass sich mit Südkorea in der unmittelbaren Nachbarschaft ein amerikanischer Stützpunkt befindet. Auf dem Papier macht Südkorea einen imposanten Eindruck und die Städte des Landes glänzen durch Fortschritt. Die Frage jedoch ist, was mit dem Land geschehen würde, falls sich die USA auch von dort zurückziehen würden? Kann sich Südkorea auf sich selbst gestellt als souveräne und erfolgreiche Nation behaupten, oder fällt auch dieser Außenposten amerikanische Interessen in sich zusammen, falls die Garantiezusagen ihren Wert verlieren? Vermutlich müssten wir keine zwei Wochen darauf warten, bis diese Frage auf einer koreanischen Halbinsel ohne amerikanische Präsenz beantwortet werden würde.

Sollte Washington tatsächlich Hongkong, Taiwan und/oder Südkorea aufgeben, dann wäre dies mit Sicherheit ein weiteres Zeichen der amerikanischen Hegemonie. China würde vom Ende dieser Schwachstellen in seiner unmittelbaren Interessenspähre in immenser Weise profitieren.

Der Verlust der Kontrolle über die eigenen „Großkonzerne“

Trotz ihres theoretisch internationalen Charakters haben Big Tech, Big Pharma, Big Agro und so weiter stets pflichtbewusst den Interessen Washingtons gedient. Große gewinnorientierte Unternehmen allerdings sind auch ziemliche „Huren“, die jedem Herrn dienen, der ihnen die versprochene Gewinnspanne liefert. Sollte Washington seine Großkonzerne nicht mehr so kontrollieren können wie es früher der Fall war, dann entspräche dies einem weiteren Dominostein.

In geringem Maße geschieht dies bereits in Hollywood, wo den (offiziellen und inoffiziellen) Forderungen chinesischer Zensoren einen großen Einfluss auf Produktionen haben. Sollte es jedoch so weit kommen, dass Hollywood sein Quasimonopol auf die globale Popkultur verlieren, dann würden die USA das wohl wertvollste Instrument der weichen Machtausübung über die Welt verlieren. Oder noch schlimmer: Sollte Hollywood von ausländischen Interessen komplett aufgekauft werden können, dann könnte es sehr schnell gehen beim Erzeugen eines neuen kulturellen Narrativs in der Welt.

Mit dem Verschwinden des Hegemons werden die Großkonzerne überdies mit einem verstärkten Druck seitens Russland, China und den Arabern bekommen, die darauf drängen werden, den Drall in Richtung „Buchstabensexualität“ fallen zu lassen, um gleichzeitig ihre Gesellschaften in einem positiven Licht darzustellen. Apple mag zwar „in Kalifornien entwickelt“ werden. Doch sollten sich die Vorzeichen in kritischer Weise verändern, dann würde auch dieser Konzern wohl eher auf zu neuen Ufern aufbrechen, als dem eigenen Land die Treue zu schwören und damit den eigenen Niedergang zu akzeptieren.

Mexiko, Lakotastan und das schwarze Amerika

Die Vereinigten Staaten haben ausgesprochen gute Arbeit darin geleistet, bei geostrategischen Konkurrenten inneren Zwist und Unabhängigkeitsbewegungen zu fördern, während das Land gleichzeitig seine eigene diverse Bevölkerung zu Hause unter dem Dach einer gemeinsamen amerikanischen Leitkultur vereinen konnte. Doch nicht anders als bei den Sowjets und bei den Briten käme eine Welle abtrünniger Republiken und erfolgreiche Sezessionsbewegungen einem sehr großen Dominostein gleich.

Die Sowjets versuchten in den 60er Jahren, die afroamerikanische Bevölkerung der USA gegen das Land aufzuwiegeln. Der Versuch scheiterte zwar kläglich, jedoch könnten Organisationen wie Black Lives Matter weiterhin außer Kontrolle geraten oder im Fall eines kritischen inneren Kohäsionsverlusts von ausländischen Mächten ausgenutzt werden. Ein afroamerikanischer Maidan in den USA wäre sicherlich ein weiteres Zeichen für den bald kommenden Untergang des Landes.

Ebenso denkbar wäre die Entstehung eines unabhängigen Staates für amerikanische Ureinwohner wie etwa die Lakota Indianer. Auf einen ersten Erfolg würden sicherlich noch weitere Abspaltungsversuche folgen.

Mit der Niederlage Mexikos im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg verlor das Land die Möglichkeit, zur dominierenden Macht auf dem Kontinent aufzusteigen. Nur wenige erinnern sich noch daran, doch die Herrschaft über die Neue Welt wurde den USA keineswegs in die Wiege gelegt. Mit einem Sieg hätte Mexiko damals einen gleichzeitigen Zugang zum Atlantik und den Pazifik gehabt, nicht aber die USA. Es war damals keineswegs ausgeschlossen, dass Mexiko die Kontrolle über die gesamte heutige US-Westküste hätte bekommen können.

Sollte Mexiko von neuem damit beginnen, auf der Weltbühne als unabhängiger Akteur zu agieren, wäre dies sicherlich ein weiteres Zeichen für ernsthafte Schwierigkeiten der Macht der USA über den Kontinent. In Nordamerika existierte bislang immer nur ein einziges Machtzentrum, das sich in Washington befindet. Es ist keineswegs gesagt, dass dies für immer so bleiben muss.

Das Ende des Dollars oder der Zusammenbruch der Federal Reserve

Ein Zusammenbruch des Dollars oder ernsthafte Probleme bei der Federal Reserve, die infolge der exorbitanten Verschuldung schon seit vielen Jahren befürchtet werden, wäre zweifellos der größte aller Dominosteine. Unter der Vorherrschaft Washingtons konnte der globale Westen quasi ohne Konsequenzen verblüffend hohe Schulden anhäufen, ohne dass dies Konsequenzen hatte. Das Eintreiben der Schulden erfordert eben immer einen Schuldner, der angreifbar ist. Dies war bei den USA und ihrem globalen Machtnetzwerk nicht der Fall.

Sollte das Land jedoch endgültig an seine Grenzen stoßen könnte sich dies fundamental ändern. Denn niemand kann einen globalen Hegemons zum Begleichen seiner Schulden zwingen. Doch die von diesem abhängigen Regionalmächte müssen weiterhin ihre Bilanzen ausgleichen können. Eine Verschiebung der Machtverhältnisse könnte daher noch zu unseren Lebzeiten all jenen recht geben, die in der ewigen Verschuldung eine Sackgasse sehen. Sollte es dazu kommen, wäre es mit Sicherheit ein Dominostein, den niemand mehr wird übersehen können.

Schlussfolgerung

Ist Afghanistan „der erste Dominostein“ auf dem Weg zum Untergang des amerikanischen Imperium? Das lässt sich kaum beurteilen, doch es sieht definitiv aus wie ein erster Dominostein, der in Position gebracht wurde und es nun darauf ankommt, dass hinter ihn weitere Dominosteine aufgereiht werden. Auf Afghanistan müssten weitere große Niederlagen folgen, um mit Sicherheit sagen zu können, dass es nach nicht einmal einem Viertel der Zeit zu Ende ist mit dem „Neuen Amerikanischen Jahrhundert“. In der geopolitischen Analyse von großer Bedeutung ist daher nicht wirklich Afghanistan, sondern es sind vor allem alle anderen Kandidaten, die als Dominostein in Frage kommen. Die große Frage lautet also: Falls Washington seine monopolare Macht über die Welt wirklich gerade im Begriff zu verlieren ist, wo wird dann der nächste große Rückzug stattfinden?