Polen war bisher der größte Unterstützer ukrainischer Migranten und Flüchtlinge. Indessen zeigt sich eine polnische Anpassung dieser Politik. Darunter die Schließung des größten Flüchtlingszentrums bei Warschau sowie das jüngste Ausliefern ukrainischer Männer an Kiew.
Von Elem Chintsky
Nicht zuletzt wegen der geografischen Lage – aber auch wegen der solidarischen Grundeinstellung der polnischen Zivilbevölkerung – hatte die polnische Republik in den letzten zwei Jahren mit der Aufnahme, Organisierung, Umverteilung und Weiterleitung ukrainischer Migranten und Kriegsflüchtlinge eine Führungsrolle eingenommen – neben Russland selbst.
Am 1. September 2023 überraschte die Nachricht umso mehr, dass die „größte Umsiedlungsstelle für Flüchtlinge in Europa“ (so die Selbstbeschreibung der Organisatoren) geradezu in einer Nacht-und-Nebel-Aktion unangekündigt ihre Pforten schloss. Innerhalb von wenigen bis zu ein Dutzend Stunden mussten Hunderte Flüchtlinge das Gelände, das sich im Einkaufszentrum Ptak Warsaw Expo befand, räumen. Es liegt in Nadarzyn – zehn Kilometer südwestlich von der polnischen Hauptstadt entfernt.
Laut dem Zentrum haben sie jeden Tag mehr als 1.000 Menschen sicher umgesiedelt und täglich kostenlose Transporte in die wichtigsten Städte Europas organisiert, – darunter nach Deutschland, Italien, Dänemark, Spanien, die Niederlande, Portugal und Schweden. Die Einrichtung selbst verfüge über eine Fläche von 150.000 Quadratmetern und könne bis zu 20.000 Bedürftige aufnehmen. Von der kürzlichen Schließung selbst steht auf der Website bisher aber noch nichts.
Verschiedenen Quellen zufolge habe Polen zwischen einer und eineinhalb Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Im März dieses Jahres haben die polnischen Behörden beschlossen, dass ukrainische Flüchtlinge, die sich länger als 180 Tage im Land aufhalten, 75 Prozent der Kosten für ihre Unterbringung selbst tragen müssen.
Über den Frühling 2022 hinweg lebten bis zu 9.000 ukrainische Bürger in Nadarzyn. Unmittelbar vor der Schließung des Unterstützungszentrums hielten sich dort rund 300 Menschen auf. Laut dem überregionalen privaten Radio-Nachrichtensender TOK FM, der an dem Tag Vorort gewesen ist und berichtete, sollen ihm die Behörden der Woiwodschaft Masowien den Rückgang der Zahl der Ukrainer, die ins Land kommen, als Grund für die Schließung des Zentrums genannt haben. Die an diesem Tag ausquartierten ukrainischen Flüchtlinge sollen in andere Zentren umgesiedelt worden sein, wonach einige auf eigene Faust eine neue Unterkunft finden konnten.
Das große Bild im Wandel?
Dies könnte als weiterer Indikator dafür dienen, dass sich die Gesamtdynamik des Ukraine-Krieges im Wandel befindet. Er reiht sich ein in andere Entwicklungen, wie die bereits seit mehr als einem Monat diskutierten Spannungen zwischen Warschau und Kiew in der Frage um ukrainisches Getreide auf dem polnischen Markt. Ein bilateraler ökonomischer Konflikt, der Frustrationen und Befürchtungen polnischer Bauern zutage führte. Die Warschauer Führung hat daraufhin damit begonnen, ihre Forderungen mehr zu berücksichtigen – ganz zum Missfallen Kiews.
Seit über einer Woche wird in manchen polnischen Medien sogar berichtet, dass Polen damit anfangen könnte, ukrainische Kriegsdienstverweigerer an Kiew auszuliefern, was die bisherige Flüchtlingshilfe in ein neues Licht rücken würde. Laut den Medien habe dieser Prozess sogar bereits begonnen. Daten der polnischen Grenzbehörde zufolge sollen seit Februar 2022 rund 80.000 dem Kriegsdienst verpflichtete männliche Ukrainer ihr Land illegal über Polen verlassen haben.
Präsident Wladimir Selenskij lässt diesen Ansatz zur Stärkung und Revitalisierung seiner Streitkräfte weiterhin prüfen, ist aber gleichzeitig auch auf die fortwährende Kooperation Warschaus und anderer EU-Länder angewiesen, da sie seine männlichen Staatssubjekte potenziell beherbergen könnten.
All das wird durchzogen von einem gänzlich unaufgearbeiteten, soziohistorischen Konflikt über die menschenverachtenden Verbrechen von Ukrainern an der polnischen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Die mangelnde Bereitschaft Kiews, diesen Gräueltaten auf höchster diplomatischer Ebene (sowie auf allen anderen auch) das nötige, demütige Sühnezeichen entgegenzubringen, wird innerhalb des polnischen Volkes mit vermehrt empörter Perplexität vernommen, – was besonders in der mittlerweile oft als „ukrainische Undankbarkeit“ vernommenen Stimmung für die präzedenzlose Hilfe, die die Polen den Ukrainern bis heute geleistet haben und weiterhin leisten, zu sehen ist.
*
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Chintsky publiziert unter anderem für RT DE und das Nachrichtenmagazin Hintergrund. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.