Unabhängige Analysen und Informationen zu Geopolitik, Wirtschaft, Gesundheit, Technologie

Unsere europäischen Werte: 1,21 Euro Mindestlohn in der Ukraine

strategic-culture.org: Lernen Sie die Ukraine kennen, das Land mit der ärmsten und kränksten Bevölkerung Europas, das Zentrum des Zigarettenschmuggels und der Weltmarktführer im Handel mit weiblichen Körpern.

Als 2015 in der Ukraine zum ersten Mal ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde, lag er bei 0,34 Euro, also 34 Cent pro Stunde. Danach wurde er erhöht: 2017 waren es 68 Cent, 2019 waren es 10 Cent mehr, also 78 Cent, und seit 2021 sind es 1,21 Euro. Schon mal davon gehört?

Auch dieser niedrigste Lohn wird nicht immer gezahlt

Das heißt natürlich nicht, dass dieser Mindestlohn in diesem Bundesland auch tatsächlich korrekt gezahlt wird. So lag der monatliche Mindestlohn für eine volle Arbeitswoche im Jahr 2017 bei 96 Euro. Aber zum Beispiel in der Textil- und Lederindustrie wurde dieser Mindestlohn für ein Drittel der meist weiblichen Beschäftigten selten pünktlich gezahlt. Weit verbreitet ist auch die Bezahlung nach Stückzahlen – eine bestimmte Anzahl von Hemden muss in einer Stunde genäht werden; klappt das nicht, wird unbezahlte Nacharbeit verlangt.

Wenn es keine Aufträge gab, wurde unbezahlter Urlaub angeordnet. In vielen Fällen wurde der gesetzlich zustehende Jahresurlaub nicht gewährt oder nicht ausgezahlt. Die Geschäftsleitung verhinderte die Wahl von Arbeitnehmervertretern. Mit diesem Mindestlohn lagen die Menschen weit unter dem offiziellen Existenzminimum: Es betrug im fraglichen Jahr 166 Euro.

Die Hungerlohnkette von der Ukraine in die benachbarten EU-Länder

Es gibt rund 2.800 offiziell registrierte Textilunternehmen, aber auch eine vermutlich ebenso hohe Zahl an nicht registrierten Kleinbetrieben. Sie bilden seit Jahrzehnten eine normale Schattenwirtschaft, oft in kleinen Städten und Dörfern.

Doch die meisten dieser Unternehmen sind nur zweitklassige Zulieferer für die international besser vernetzten Billigproduzenten in den benachbarten EU-Ländern, vor allem in Polen, aber auch in Rumänien und Ungarn.

So gehen 41 Prozent der Schuhe als Hungerlohn-Halbfabrikate aus der Ukraine zunächst in die Billiglohnfabriken Rumäniens, Ungarns und Italiens: Dort bekommen sie das unschuldig-schöne Etikett “Made in EU”.

Die Textilarbeiterinnen selbst können sich nur Second-Hand-Importe aus Deutschland leisten

Die meisten der rund 220.000 Textilarbeiterinnen sind ältere Frauen. Sie halten sich nur durch Subsistenzlandwirtschaft über Wasser, zum Beispiel mit einem eigenen Garten mit Hühnerstall. Krankheiten aufgrund von Unterernährung sind weit verbreitet.

Die Textilarbeiterinnen und -arbeiter kaufen ihre Kleidung meist selbst aus Secondhand-Importen, die vor allem aus Deutschland, Polen, Belgien, der Schweiz und den USA stammen. Die Ukraine importiert viel mehr Textilien als sie exportiert.

Die teuren Boss- und Esprit-Importe aus dem reichen EU-Westen, die in der Ukraine vorproduziert werden, sind für die reiche Elite und die NGO-Blase in Kiew bestimmt – während der Großteil der Importe billigste Second-Hand-Textilien sind. Die Textilarbeiter und die Mehrheit der Bevölkerung können sich nur die fast kostenlosen Wegwerftextilien aus den reichen Staaten leisten, wie die Clean Clothes Campaign berichtet.

Doch westliche Gewerkschaften und “Menschenrechtsaktivisten” schauen nach wie vor nach Asien und Bangladesch, wenn es um menschenrechtswidrige Niedriglöhne in der Textilindustrie geht. Dabei sind die Niedriglöhne in der Ukraine viel niedriger. Auch bei den aktuellen Diskussionen in der EU und im Deutschen Bundestag über ein Lieferkettengesetz: Da geht der Blick weit hinaus, global, nach Asien, während die EU-ukrainische Armutskette verleugnet wird.

Hier sitzt sie, die Korruption: C&A, Hugo Boss, Adidas, Marks&Spencer, New Balance, Esprit, Zara, Mexx sind die profitierenden Endverbraucher. Sie leben von der Ausbeutung, die gegen die Menschenrechte verstößt. Hier in den reichen EU-Staaten sitzen die Hauptakteure der Korruption. Sie begrüßen insgeheim die nicht vorhandene oder mitschuldige Arbeitsinspektion des ukrainischen Staates, und auch die EU deckt das systemische Arbeitsunrecht mit rituellen scheinheiligen und inkonsequenten Mahnungen zur Korruption in der Ukraine.

Autozulieferer, Pharmazie, Maschinenbau

Ähnlich wie in der Textil- und Lederindustrie geht es auch in anderen Branchen zu. Die Ukraine war in der Sowjetunion ein Zentrum der industriellen Produktion. Nach der Unabhängigkeit 1991 übernahmen Oligarchen die Unternehmen, kassierten Gewinne und steckten nichts in Innovationen. Für westliche Unternehmen standen Millionen von gut qualifizierten Mitarbeitern zur Verfügung – zu niedrigen Löhnen.

Tausende von Unternehmen, vor allem aus den USA und den EU-Ländern – allein rund 2.000 aus Deutschland – vergaben Zulieferaufträge für eher einfache Teile: Porsche, VW, BMW, Schaeffler, Bosch und Leoni zum Beispiel für Autokabel; Pharmakonzerne wie Bayer, BASF, Henkel, Ratiopharm und Wella lassen ihre Produkte abfüllen und verpacken; Arcelor Mittal, Siemens, Demag, Vaillant, Viessmann unterhalten Montage- und Vertriebsniederlassungen. Hier werden Löhne von zwei bis drei Euro gezahlt, also mehr als der Mindestlohn, aber immer noch weniger als in den EU-Nachbarländern Ungarn, Polen und Rumänien.

Deshalb sind die ukrainischen Standorte eng mit den Standorten der gleichen Unternehmen in diesen EU-Nachbarländern vernetzt, wo die gesetzlichen Mindestlöhne über 3 Euro und unter 4 Euro liegen. Die Vernetzung gilt aber genauso für die noch ärmeren Nachbarstaaten Moldawien, Georgien und Armenien, die nicht zur EU gehören. Auch hier werden Filialen betrieben. Im Zuge der von der EU organisierten “Östlichen Nachbarschaft” werden alle Qualifikationsunterschiede, auch bei geringerer Bezahlung, ausgenutzt – mit der Ukraine als Drehtür.

Arbeitsmigration in Millionenhöhe

Diese selektive Ausnutzung von Standortvorteilen durch westliche Kapitalisten hat nicht zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes geführt. Im Gegenteil: Die Ukraine ist wirtschaftlich verarmt. Die Mehrheit der Bevölkerung ist ärmer und kränker geworden. Eine Massenreaktion ist die Arbeitsmigration.

Sie begann schon früh. Bis Ende der 1990er Jahre wanderten mehrere hunderttausend Ukrainer nach Russland aus. Die Löhne waren nicht viel höher, aber in Russland haben sich die übermäßige Verwestlichung des Lebensstils und der Anstieg der Lebenshaltungskosten für Lebensmittel, Miete, Gesundheit und staatliche Gebühren nicht durchgesetzt.

Seit den 2000er Jahren und beschleunigt durch die Folgen des Maidan-Putsches 2014 sind etwa 5 Millionen Ukrainer Wanderarbeiter – etwa zwei Millionen mehr oder weniger dauerhaft im Ausland und etwa drei Millionen pendeln in die Nachbarstaaten. Insbesondere der polnische Staat, der ohnehin Anspruch auf die westlichen Teile der Ukraine erhebt, fördert die Arbeitsmigration aus der Ukraine. Etwa zwei Millionen Ukrainer sind in Polen beschäftigt, vor allem in gering qualifizierten Berufen wie Reinigungskräften, Haushaltshilfen, Kellnern, Altenpflegern und LKW-Fahrern. In Polen floriert auch das Geschäft der Arbeitsvermittlungsagenturen: Sie erklären Ukrainer zu polnischen Staatsbürgern und vermitteln sie zum Beispiel als Hauspflegerinnen nach Deutschland und in die Schweiz: Dort zahlen sie den Mindestlohn für eine 40-Stunden-Woche, in Wirklichkeit müssen die Pflegekräfte aber laut Vertrag mit der polnischen Agentur 24 Stunden am Tag auf Abruf bereitstehen.

Hunderttausende von Ukrainern sind auch in Rumänien, Ungarn, der Slowakei und der Tschechischen Republik fest angestellt, als Zeitarbeiter oder als Pendler, mit Mindestlöhnen zwischen 3,10 Euro und 3,76 Euro. Die Ukrainer freuen sich darüber, auch wenn sie etwas unter diese Mindestlöhne gedrückt werden – es ist immer noch viel besser als in ihrem Heimatland, und die Arbeitsaufsicht sagt nichts und die EU auch nicht (Werner Rügemer: Imperium EU – Arbeitsunrecht, Krise, neue Widerstände, tredition 2021).

Studenten aus der Ukraine werden gerne als engagierte Saisonarbeiter in der EU-Landwirtschaft eingesetzt. Allein in Niedersachsen sind es jährlich etwa 7.000 Studenten, die allerdings nicht unbedingt studieren, sondern mit gefälschten Immatrikulationspapieren einreisen. Weder in der Ukraine noch in Deutschland gibt es eine Kontrolle, wie eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ergab.

Mindestlohn in Litauen: 2015 lag er bei 1,82 Euro, fünfmal höher als damals in der Ukraine; 2020 bei 3,72 Euro. Die EU fördert die Entwicklung Litauens zu einem europäischen Speditionszentrum: Mit Hilfe künstlicher Intelligenz werden billige und willige Lkw-Fahrer aus Drittländern wie der Ukraine und Moldawien, aber auch aus weiter entfernten Ländern wie den Philippinen, quer durch Europa gelotst. Sie brauchen keine Sprache zu lernen, sondern erhalten ihre Anweisungen per Smartphone und Navi. Mit Beginn des Krieges in der Ukraine beispielsweise fehlten den Fuhrunternehmen in Litauen und Polen plötzlich über 100.000 Lkw-Fahrer – aus der Ukraine durften sie wegen des Militärdienstes nicht ausreisen.

Frauenarmut I: Verbotene Prostitution floriert

Der patriarchalische Oligarchenstaat der Ukraine hat die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen extrem vertieft. Mit einem geschlechtsspezifischen Lohngefälle von 32 Prozent liegen die ukrainischen Frauen an letzter Stelle in Europa: Im Durchschnitt erhalten sie ein Drittel weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen, im Finanz- und Versicherungsbereich sind es sogar 40 Prozent für dieselbe Arbeit – der EU-Durchschnitt liegt bei 14 Prozent. Aufgrund patriarchalischer Stereotypen werden Frauen zudem besonders häufig in prekäre Teilzeitjobs gedrängt, mehr noch als in Angela Merkels Deutschland, das bei der Diskriminierung von Frauen den vorletzten Platz unter den EU-Ländern einnimmt.

Zu dieser patriarchalischen Verarmung der Frauen gehört auch das Verbot der Prostitution, die unter diesen Bedingungen floriert. Zu den schätzungsweise 180.000 Frauen, die in der Ukraine als Prostituierte, geschiedene alleinstehende Frauen mit Kindern oder arbeitslose Frauen arbeiten, gehören auch Grundschullehrerinnen, die mit ihren 120 Euro im Monat nicht auskommen.

Da Prostitution verboten ist, verdienen Bordellbetreiber Geld, ebenso wie Polizisten und Taxifahrer, weil sie durch Schweigen ein gutes Einkommen haben. Auch Privatwohnungen werden genutzt, wie die Bordelle in bester Lage in der Hauptstadt Kiew. Touristen werden hereingelockt – mit 80 Euro sind sie dabei. Acht Dienste pro Nacht – keine Seltenheit. Etwas weniger als die Hälfte der Einnahmen verbleibt bei den Frauen. Manche hoffen auf eine Übergangsfrist von einem, zwei oder gar drei Jahren. Oft vergeblich. Ein Drittel wird drogenabhängig, ein Drittel gilt als HIV-positiv.

Nach der “Liberalisierung” der sexuellen Dienstleistungen durch die Bundesregierung von Schröder/SPD und Fischer/Grüne zu Beginn des Jahrhunderts wurde Deutschland zum “Bordell Europas”. Die bundeseigene Entwicklungsagentur GTZ warb in ihrem “Deutschland-Reiseführer für Frauen” um ukrainische Frauen, die nun gute Aussichten im Sex-Geschäft hatten. Viele kamen. Merkels Deutschland wurde zum europäischen Zentrum für kommerzielle Prostitution, größtenteils illegal und von den Behörden geduldet – günstige Bedingungen für Frauen, die nicht aus einem EU-Mitgliedstaat kommen. Da liegt es auf der Hand, dass Zuhälter nun versuchen, flüchtende ukrainische Frauen im Jahr 2022 an der Grenze anzuwerben.

Frauenarmut II: Der weibliche Körper als ausbeutbares Material

Die Ukraine ist ein angenehmer Standort für westliche Unternehmen, um Praktiken auszuüben, die sonst verboten sind, ein tausendfacher Standort für die US-geführte Globalisierung. Das gilt auch für die kommerzielle Nutzung des weiblichen Körpers, weit über die illegale Prostitution hinaus.

Die Ukraine ist der globale Hotspot für industrielle Leihmutterschaft, mit einer weitreichenderen “Liberalisierung” als sonst. Die weit verbreitete Frauenarmut bietet ein unerschöpfliches Reservoir.

Vittoria Vita, La Vita Nova, Delivering Dreams oder prosaischer BioTex – das sind die Namen, unter denen Leihmutterschaftsagenturen in Kiew und Charkiw für ihre Dienste und ihre Frauen werben. Hübsche, gesunde Ukrainerinnen werden in Katalogen für wohlhabende Ausländer angeboten. Zwischen 39.900 und 64.900 Euro liegen die Preise für ein gesund ausgetragenes Baby. Die Wunschkind-Touristen kommen aus den USA, Kanada, Westeuropa und China.

Die Wunscheltern bringen Ei- und Samenzellen in eine der Dutzenden von Spezialkliniken. Sie werden in einem Reagenzglas befruchtet. Dann wird der fremde Embryo der Leihmutter eingepflanzt. Die Leihmutter trägt ein genetisch fremdes Kind aus. Diese Methode wurde in den USA entwickelt, ist dort aber viel teurer: zwischen 110.000 und 240.000 Euro. In der Ukraine ist es weniger geregelt. Die Frau, die das Kind austrägt, darf genetisch nichts mit dem Kind zu tun haben, sie ist nur ein fremdes Werkzeug, das nach dem Einsatz sofort vergessen werden soll, gar nicht mehr existiert – und für den nächsten Einsatz für ein ganz anderes fremdes Paar bereitsteht.

Die Preise sind unterschiedlich, je nachdem, ob die Wunscheltern ein bestimmtes Geschlecht für ihr bestelltes Baby wünschen oder nicht: Ohne Geschlechtswahl kostet es bei BioTex 39.900 Euro, mit zwei Versuchen für das gewünschte Geschlecht 49.900 Euro und mit unbegrenzten Versuchen 64.900 Euro. In diesen Angeboten sind Hotelunterbringung, Ausstellung von Geburtsurkunde und Reisepass im deutschen Konsulat enthalten. Bislang wurden weltweit mehr als 10.000 solcher Babys ausgetragen.

Die Leihmutter – ein Leihmutterschaftsunternehmen trägt den passenden Namen: Surrogacy Ukraine – erhält während der Schwangerschaft einen monatlichen Bonus zwischen 300 und 400 Euro, nach erfolgreicher Geburt erhöht sich die Erfolgsprämie auf 15.000 Euro. Wenn es zu einer Fehlgeburt kommt, das Kind behindert ist oder seine Adoption abgelehnt wird, erhalten die Leihmütter nichts. Ihr psychischer Zustand wird nicht berücksichtigt, und es gibt keine soziale Absicherung gegen gesundheitliche Schäden. Es gibt keine Studien über die langfristigen Folgen.

Null-Stunden-Verträge, Enteignung von Gewerkschaften

Die Regierung Zelensky erhöhte den Mindestlohn auf 1,21 Euro, schwächt und zerstört aber gleichzeitig die Gewerkschaften, die bereits seit der Unabhängigkeit zunehmend geschwächt wurden. Das Arbeitsgesetz vom Dezember 2019 ist der Höhepunkt der bisherigen extremen Ungerechtigkeit in der Arbeitswelt:

*Der Null-Stunden-Arbeitsvertrag ist erlaubt: Arbeit auf Abruf. Wenn der Unternehmer Arbeit zu vergeben hat, bekommt er den Arbeitnehmer kurzfristig. Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und das Einkommen aus der Arbeit können gleich Null sein.

*Entlassungen müssen nicht mehr begründet werden.

*Das individuelle Aushandeln von Arbeitsverträgen wird gefördert – “Aushandeln” ist natürlich ein euphemistischer Begriff für alternativlose Angebote, was angesichts der hohen Arbeitslosigkeit kein Problem ist. Tarifverhandlungen können in Unternehmen mit weniger als 250 Beschäftigten ausgesetzt werden – das sind über 95 Prozent der Unternehmen. Davon profitieren vor allem staatliche Unternehmen, dann die Agrarindustrie und Lebensmittel- und Tabakkonzerne wie Nestle und Philip Morris.

Außerdem sollen die Gewerkschaften enteignet und ihr Vermögen beschlagnahmt werden. Auch wenn sie geschwächt sind, verfügen sie noch über Grund und Boden und zum Teil über große Häuser aus Sowjetzeiten, und diese befinden sich in den Zentren der Städte. Für Zelensky sind das “russische Überbleibsel” – also enteignen!

Hunderttausende von Ukrainern protestierten gegen das neue Gesetz – keine westliche Nachricht berichtete darüber. In einem gemeinsamen Schreiben vom 9. September 2021 haben der Internationale Gewerkschaftsbund und der Europäische Gewerkschaftsbund – IGB, CSI, EGB – die ukrainische Regierung und den für die Integration der Ukraine zuständigen EU-Ausschuss darauf hingewiesen: Das neue Arbeitsgesetz der Ukraine verstößt nicht nur gegen alle Arbeitsrechte der UN und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), sondern auch gegen die niedrigen Standards der EU – keine Reaktion.

Enteignung und Verarmung von Bauern und Bäuerinnen

Nach der Unabhängigkeit wurden den rund 7 Millionen Bauern aus ihren Kolchosen durchschnittlich etwa vier Hektar Land als Eigentum zugeteilt. Das ist zu wenig, um einen unabhängigen landwirtschaftlichen Betrieb zu führen. Daher haben die Bauern ihr kleines Land bisher an in- und ausländische Oligarchen verpachtet, und zwar gegen eine geringe Pachtgebühr, die derzeit im Durchschnitt 150 Dollar pro Jahr beträgt, während es 2008 noch 80 Dollar waren.

So haben beispielsweise der Oligarch Andry Verevsky und seine Kernel Group 570.000 Hektar Pachtland erworben, der Oligarch Oleg Bakhmatyuk und UkrLandFarming 500.000 Hektar, der US-amerikanische “Heuschrecken”-Investor NCH Capital aus New York hat 400.000 Hektar erworben, der Oligarch Yuriy Kosyuk für MHP 370.000 Hektar, der Oligarch Rinat Akhmetov für seine Agro-Holding 220.000 Hektar, während die Continental Farmers Group aus Saudi-Arabien “nur” 195.000 Hektar pachtet. Auch schwedische und niederländische Pensionsfonds sind beteiligt. Aus Bayern kommen kleine Oligarchen wie Dietrich Treis und Hans Wenzel, die zu Hause 60 Hektar haben, aber in der Ukraine 4.500 Hektar zu unvergleichlich günstigen Pachtpreisen bewirtschaften. Alexander Wolters aus Sachsen hat insgesamt 4.200 Hektar gepachtet, für 60 Euro pro Hektar und Jahr.

Sie alle sind voll in die EU und den westlichen Weltmarkt integriert:

*Die Agrobusinesses haben ihren juristischen und steuerlichen Sitz vorzugsweise in den EU-konformen Finanzoasen Zypern, Luxemburg und der Schweiz; die ukrainischen Regierungen haben Steuererlasse und Subventionen beigesteuert.

*Sie erhalten immer wieder umfangreiche Darlehen von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) und der Europäischen Investitionsbank (EIB).

*Die Saatgut-, Düngemittel-, Pestizid- und Agrartechnologie befindet sich hauptsächlich in den Händen amerikanischer und deutscher Konzerne wie Cargill, Archer Daniels, John Deere, Corteva, Bayer und BASF.

Hochbezahlte Manager leiten die Unternehmen. Einige wenige Landwirte können in dieser groß angelegten Agrarindustrie ungelernte Arbeit zu Mindestlöhnen verrichten. Ein wenig nicht verpachtetes Land ermöglicht ihnen ein karges Überleben.

Doch die Regierung Zelensky hat die Pachtpraxis beendet: Ab dem 1. Juli 2021 können die Bauern ihr Land verkaufen, zunächst nur an Käufer mit ukrainischer Staatsbürgerschaft. Zu diesem Zweck richtet die Regierung ein Auktionsportal ein, auf dem Gebote auch anonym abgegeben werden können. Die Freigabe des Verkaufs der hochfruchtbaren ukrainischen Schwarzerde wurde nicht nur von oligarchischen Landnehmern gefordert, sondern auch vom Internationalen Währungsfonds (IWF), der der hoch verschuldeten Ukraine diese Bedingung für einen neuen 5-Milliarden-Kredit auferlegte: Land darf verkauft werden, das führt zu wirtschaftlichem Aufschwung! Ein späteres Referendum im Jahr 2024 soll dann den nächsten Schritt einleiten: Verkauf des Landes auch an Ausländer. Die weitere Verarmung der Bauernfamilien ist eine der Folgen, die unter diesen Bedingungen eingeleitet wird. Deshalb haben viele Bauern gegen diese “Landreform” protestiert – ohne Erfolg.

Schmuggelzentrum Ukraine: seit 30 Jahren

Ab 1992 kauften die größten Zigarettenfirmen Philip Morris, R.J. Reynolds, British American Tobacco und Japan Tobacco Zigarettenfabriken in der Ukraine. In einigen Fällen blieb der Staat für einige Jahre als Minderheitsaktionär dabei.

Die Produktion mit guten, aber nun schlechter bezahlten Facharbeitern galt den wenigsten auf dem ukrainischen Markt. Die breite Palette von Luxusmarken wie Marlboro und Chesterfield bis hin zu den billigsten Marken wurde für den Export produziert. Im Gegenzug senkte die mitschuldige Regierung die Tabaksteuer auf ein international konkurrenzloses Niveau, das weniger als die Hälfte dessen betrug, was sonst in Europa üblich ist. Gleichzeitig blieben die Zollkontrollen auf dem niedrigsten Stand.

Ende der 1990er Jahre stellte die Europäische Kommission fest: Philip Morris & Co produzieren zu mehr als 90 Prozent in der Ukraine für den Export, auch mit den billigen Zigaretten für den weltweiten Schmuggel in arme Staaten, aber auch in die reichen EU-Staaten. Der Schmuggel würde die EU-Staaten jährlich um 4 Milliarden Euro schädigen. Die EU verklagte Philip Morris und Reynolds auf Schadenersatz. Das Gericht in New York wies die Klage im Jahr 2001 ab. Drei Jahre später erklärte sich Philip Morris bereit, der EU 1,3 Milliarden Dollar zu zahlen, um den Schmuggel und gefälschte Etiketten zu bekämpfen.

Morris zahlte jedoch vorerst nicht, und die Vereinbarung wurde 2010 erneuert. Morris erklärte sich bereit, die Summe, verteilt über 12 Jahre, an Belgien, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal und Spanien zu zahlen. Diese Staaten unterzeichneten das Abkommen – nicht aber alle osteuropäischen EU-Staaten. Zugleich blühte die Komplizenschaft hinter den Kulissen: Michel Petite, von 2001 bis 2007 Generaldirektor des Juristischen Dienstes der EU-Kommission, wechselte 2008 zur US-Anwaltskanzlei Clifford Chance, übernahm dort den Kunden Philip Morris und wurde zudem Vorsitzender des “Ethikausschusses” der EU.

In der Ukraine kostet eine Schachtel Marlboro-Zigaretten 2,50 Euro und im Kosovo 1,65 (ab 2021), trotz einer inzwischen etwas erhöhten Tabaksteuer – während die Schachtel in Deutschland 7 Euro, in Belgien 6,20, in Frankreich 10, in Italien 6 usw. kostet. Deshalb geht der Export und Schmuggel aus der Ukraine natürlich weiter. Deshalb sind die Verhandlungen rituell ergebnislos, auch auf dem 21. EU-Ukraine-Gipfel im Jahr 2022. “Die Ukraine ist zu einer globalen Drehscheibe für die Lieferung illegaler Zigaretten nach Europa geworden”, gab der stellvertretende Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, Alexej Honcharuk, zu. Präsident Zelensky hat natürlich erneut versprochen, dass die Ukraine den Tabakschmuggel noch härter als bisher bekämpfen wird.

Ukraine: Höchste Militärausgaben in Europa

Der von westlichen Akteuren – NATO-Kommunikationsabteilung, Horizon Capital, Swedbank, National Endowment for Democracy, Black See Trust, Soros Foundation – organisierte Maidan-Putsch 2014 hievte den kleinen Banker Arsenij Jazenjuk ins Amt des ukrainischen Ministerpräsidenten. Der Boykott gegen Russland führte zum Verlust von mehreren hunderttausend Arbeitsplätzen in der Ukraine – rund 40.000 allein bei deutschen Unternehmen wie dem Autozulieferer Leoni.

Die ukrainische Regierung orientierte sich nun an der EU und führte 2015 einen gesetzlichen Mindestlohn ein: 34 Cent pro Arbeitsstunde. Das war eine klare Ansage, auf welchem Niveau sich die Arbeitseinkommen bewegten. Arbeitnehmer, etwa in der Textilindustrie und in der Agrarwirtschaft, sind froh, wenn der Mindestlohn tatsächlich gezahlt wird. Andere Arbeitnehmer sind froh, wenn der Stundenlohn nahe bei drei Euro liegt. Die Arbeitsmigration in Richtung Ausland hat sich beschleunigt, wurde und wird von den gar nicht so verarmten osteuropäischen Nachbarländern gerne genutzt.

Der bevölkerungsmäßig ärmste Staat Europas rüstete mit Hilfe der NATO, vor allem der USA und Großbritanniens, ab 2016 noch schneller auf, von 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für das Militär innerhalb eines halben Jahrzehnts auf das Doppelte bis 2020, noch vor dem Krieg: auf 5,9 Prozent – hochprozentiges Aushängeschild für die Forderung von US-Präsident Obama, den Militärhaushalt auf 2 Prozent zu erhöhen. Damit liegt die Ukraine nach Saudi-Arabien an zweiter Stelle in der Welt, noch vor dem zweitbesten US-Vorbild, dem hochgerüsteten Israel.

Das Nicht-NATO-Mitglied Ukraine, mit mittlerweile 41 Millionen Einwohnern, hat mit seinen 292.000 Soldaten mehr Militär als die anderen und auch größeren NATO-Mitglieder (die USA natürlich ausgenommen), d.h. mehr Soldaten als Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Griechenland, Spanien, Polen, Rumänien…. Der Staat mit der ärmsten Bevölkerung in Europa leistete sich bzw. seinen Herren und Damen in Washington, Brüssel, London, Paris und Berlin gleichzeitig die mit Abstand höchsten Militärausgaben, vielleicht zur Vorbereitung eines Krieges, oder wofür?

Die ärmste und kränkste Bevölkerung in Europa

Der IWF gewährte dem “korruptesten Staat Europas” (Transparency International) Kredite mit Auflagen für Sozial- und Rentenkürzungen, für Erhöhungen der kommunalen Gebühren (Wasser, Abwasser, Müll) und der staatlichen Energiepreise sowie für weitere Privatisierungen. Auch der IWF war ein Kriegstreiber: Der Verlust des Donbass würde sich negativ auf die Höhe der westlichen Kredite auswirken, ließ er wissen.

Im Jahr 2020 wurde die Staatsverschuldung auf optisch attraktive 60% gesenkt, was für einen EU-Beitritt hervorragend ist. Die Begleiterscheinung: Die Mehrheit der Bevölkerung ist noch ärmer geworden, die Lebenshaltungskosten, Lebensmittel, kommunale Steuern, Mieten, Gesundheits- und Energiekosten sind gestiegen – sind nur noch teilweise oder gar nicht mehr bezahlbar. Im Jahr 2013, vor dem Maidan-Putsch, lag die Durchschnittsrente noch bei 140 Euro, was den Höchststand in der Geschichte der unabhängigen Ukraine darstellte. Seit 2017 liegt die Durchschnittsrente bei 55 Euro. Immer mehr Rentner müssen weiterarbeiten – wenn sie denn Arbeit gefunden haben.

Seit der westlich orientierten Unabhängigkeit ist die Bevölkerung der Ukraine von 51 Millionen auf jetzt 41 Millionen geschrumpft. Noch vor dem aktuellen Krieg sagte die Internationale Organisation für Migration (IOM) für 2050 einen weiteren Rückgang voraus: 32 Millionen Einwohner, die im Durchschnitt noch älter sein werden als heute.

Die ärmste Bevölkerung in Europa ist auch die kränkste: Die Ukraine steht in Europa an erster Stelle bei den Todesfällen aufgrund von Unterernährung, wie das European Journal for Epidemiology 2019 dokumentierte.

Wie die Präsidentin der Europäischen Kommission, Frau von der Leyen, so überschwänglich lobte: “Die Ukraine verteidigt eindrucksvoll unsere europäischen Werte!” Deshalb sollte die Ukraine Mitglied der EU werden. Die Präsidentin fügte hinzu: “Die Ukraine hat diesen Status verdient, weil sie bereit ist, für den europäischen Traum zu sterben.”

Die christlich geprägte Politikerin hat mehr Recht als sie denkt.