Von Lorenzo Maria Pacini
*Der Talmud ist eine umfassende Sammlung jüdischer Schriften, die die mündliche Überlieferung des jüdischen Gesetzes und der religiösen Lehren dokumentiert.
Von Ursula, der Freundin aller Europäer, erfahren wir, dass Europas Wurzeln im Talmud liegen. Danke, aber darauf können wir verzichten.
Jedem das Seine
In den alternativen Medien ist ein altes Video der Präsidentin der Europäischen Kommission aufgetaucht, in dem sie erklärte, dass „die Werte Europas die Werte des Talmud sind“. Der Satz löste sofort einen Skandal aus und das Video wurde überall verbreitet. Es handelt sich um ein altes Video aus der Zeit, als sie einen Ehrendoktortitel an der Ben-Gurion-Universität erhielt.
Die Verwirrung ist mehr als berechtigt. Die Worte waren eindeutig: Talmud. Nicht Judentum, nicht jüdisch-christliche Wurzeln, wie konservative Politiker oft behaupten, sondern der Talmud. Ein klares und eindeutiges Wort, das in einer vorbereiteten Rede ausgesprochen wurde.
Bevor wir uns ansehen, was der Talmud ist, sollten wir über die politische Tragweite dieser Worte nachdenken, denn das Wiederauftauchen dieses Videos in einer für Europa so heiklen Phase, in der die Europäische Union das Wenige verletzt, was von der nationalen Souveränität der Länder noch übrig ist, ist sicherlich kein Zufall.
Europa hat keine jüdischen Wurzeln. Die europäischen Völker haben von ihrer ethnisch-soziologischen bis hin zu ihrer politischen Dimension griechische, lateinische und christliche Wurzeln. Das Christentum hat, ob es einem gefällt oder nicht, ganz Europa durchdrungen und ihm einen unauslöschlichen Stempel aufgedrückt.
Wie der Wirtschaftswissenschaftler Giovanni Zibordi, zitiert von Prof. Paolo Becchi, betonte: „Warum hat Europa talmudische Werte? Niemand weiß genau, was der Talmud ist, aber er ist nicht die Bibel. Er wurde etwa 1000 Jahre später geschrieben und ist ein enzyklopädischer Text, der Tausende von Seiten umfasst und nur von den Rabbinern diskutiert und studiert wird. Martin Luther lernte Hebräisch und war der erste Nichtjude, der ihn las, und er war über den Inhalt empört. Daher rührt sein Ruf als Antisemit. Aber wenn man versucht, einige Auszüge oder Zusammenfassungen zu lesen, wiederholt sich darin, dass es eine Moral für Juden und eine andere für alle anderen gibt. Aus welchem Grund genau basiert das Europa der EU auf dem Talmud (und nicht auf dem Evangelium, wenn man schon einen religiösen Text zitieren möchte)?
Der Punkt ist, dass der Talmud weder eine Religion an sich ist, noch ein Wertesystem an sich, noch ein historischer, politischer oder kultureller Bestandteil eines der europäischen Völker. Der Talmud gehört einer ethnischen und religiösen Minderheit, die seine Autorität und Werte anerkennt, aber er ist kein gemeinsames Erbe, in keinem Sinne des Wortes. Zu behaupten, dass Europa die Werte des Talmud hat, ist eine Manipulation, die dennoch sehr präzise politische Wahrheiten enthält.
Andererseits war es Ursula, die den Preis für das jüdische Kulturerbe im Jahr 2023 ins Leben gerufen hat, um das „jüdische Erbe“ zu feiern, das Europa in sich trägt. Es ist nicht klar, worauf sie sich bezieht, da das europäische Erbe theoretisch nicht jüdisch ist. Oder vielleicht bezieht sie sich auf das politische Erbe, das insbesondere mit der Macht der jüdischen Lobbys und des Zionismus verbunden ist, wie mehrfach bewiesen wurde, sogar kürzlich in der Gaza- und Palästina-Frage, als alle europäischen Staats- und Regierungschefs darum wetteiferten, Israel zu huldigen und zu unterstützen.
Europa, wir wiederholen es, ist christlich, die Wiege der Kirche und mit einer tausendjährigen Geschichte des Christentums, dessen Zeichen auch in dieser Zeit der Säkularisierung und spirituellen Orientierungslosigkeit noch sichtbar sind. Jedem das Seine. Wenn von der Leyen den Talmud als Quelle anführt, gehört sie offensichtlich auch zum Talmud. Europa hingegen hat mehr mit der christlichen Bibel zu tun.
Der Talmud und das Judentum
Eugenio Zolli, ein bekannter ehemaliger Oberrabbiner von Rom, der inzwischen zum Christentum konvertiert ist, definiert den Talmud als die umfangreiche Sammlung rabbinischer Traditionen. Riccardo Calimani erklärt, dass Moses nach einem alten jüdischen Glauben auf dem Berg Sinai nicht nur die schriftliche Thora (Pentateuch), sondern auch die mündliche erhielt, die dann an Josua und die Weisen weitergegeben wurde, bis sie in der Mischna niedergeschrieben wurde. Letztere, die als „schriftlich niedergelegtes mündliches Gesetz“ gilt, wurde zum Kernstück des jüdischen Denkens und führte zu zahlreichen Kommentaren.
Die Tannaim (1.-3. Jahrhundert) und später die Amoraim (3.-5. Jahrhundert) schrieben einen Kommentar zur Mischna mit dem Namen Gemara, der zusammen mit der Mischna den Talmud bildet. Es gibt zwei Hauptversionen: den Talmud von Jerusalem und den von Babylon (umfassender und maßgeblicher, fertiggestellt im 6. Jahrhundert).
Der heilige Johannes Bosco bietet eine leicht verständliche Definition: Der Talmud ist eine Sammlung jüdischer Lehren, die aus der Mischna (dem Kodex mündlicher Gesetze) und der Gemara (deren Erklärung) besteht. Der Talmud regelt die Religion, das Recht und die Bräuche des jüdischen Volkes.
Elio Toaff betont, dass die Wurzeln des modernen Judentums im Talmud zu finden sind. Pater Joseph Bonsirven, ein katholischer Gelehrter, analysiert seine Struktur und seinen Geist: Er besteht aus sechs Abschnitten, darunter Neziqim, der für die Beziehungen zum Christentum relevant ist. Seiner Meinung nach folgt der Talmud einer anderen Logik als der aristotelischen, die auf einer technischen, symbolischen Sprache basiert, die ohne rabbinische Ausbildung schwer zu erlernen ist.
Bonsirven warnt davor, dass eine direkte Annäherung an den Text ohne fachkundige Anleitung unzureichend und riskant ist. Er kritisiert auch einige theologische Abweichungen: Die Betonung der Erwählung Israels und der Tora kann zu religiösem Nationalismus, Exklusivismus und extremer Gesetzlichkeit führen. Dies würde seiner Meinung nach zu einer spirituellen Abkapselung gegenüber der christlichen Botschaft führen. Er zitiert auch den jüdischen Historiker Henri Graetz, dem zufolge die talmudische Bildung mit ihrem subtilen dialektischen Stil eine zweideutige Haltung gegenüber Nichtjuden im praktischen Leben gefördert hätte.
Im Laufe der Zeit wurde der Talmud von Christen heftig angegriffen. Einige Passagen wurden als Beleidigung gegenüber Jesus angesehen und später in polemischen Texten wie dem Toledot Jesu gesammelt. Der jüdische Gelehrte Isidore Loeb erkennt die Anwesenheit antiker Kritik gegen Jesus im Talmud an und hält sie für historisch verständlich. Die Verurteilung der Minim (Ketzer) wird von vielen als Hinweis auf die frühen Christen interpretiert.
Félix Vernet erklärt, dass sogar der Begriff Goyim (Nichtjuden), der sich ursprünglich auf Griechen und Römer bezog, schließlich auf Christen hinwies. Im Talmud, der zwar nicht durchgehend von Feindseligkeit geprägt ist, mangelt es nicht an Vulgarität und Anschuldigungen gegen Jesus und Maria.
In Europa ist einer der besten Talmud-Gelehrten der christlichen Welt der katholische Priester Don Curzio Nitoglia. Er ist Autor zahlreicher Bücher und hat sich auf Theologie spezialisiert, indem er die Merkmale des Judentums und seine Beziehung zum Christentum untersucht hat. Er hat viele erfolgreiche Bücher über den Talmud geschrieben.
Eines seiner wichtigsten Werke ist Per padre il diavolo (Der Teufel ist dein Vater), eine umfangreiche Studie, die der sogenannten „Judenfrage“ gewidmet ist und aus der Perspektive der katholischen Tradition analysiert wird.
Der Titel des Werks erinnert an die Worte, die Jesus im Johannesevangelium (8:44) zu den Pharisäern sprach: „Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr erfüllen.“ Mit der für die scholastische Theologie typischen Strenge und Methode untersucht Nitoglia das Thema in all seinen Dimensionen: nicht nur religiös, sondern auch historisch, kulturell und politisch, und geht sogar so weit, die moderne Entwicklung des Zionismus zu untersuchen. Das Werk ist in thematische Kapitel unterteilt, um ein geordnetes Bild eines komplexen und in mancher Hinsicht kontroversen Themas zu bieten. Der Autor befasst sich mit sensiblen Themen, die besondere Vorsicht erfordern, und berücksichtigt auch die Risiken, die mit subjektiven Interpretationen und Gesetzen zur Meinungsfreiheit verbunden sind.
Nach der traditionellen katholischen Sichtweise sollte die „jüdische Frage“ nicht im ethnischen Sinne verstanden werden, da die Kirche alle Formen des Rassismus stets abgelehnt hat. Die spirituelle Rolle, die dem jüdischen Volk zugeschrieben wird, bestand laut der Lehre darin, die Ankunft des Messias vorzubereiten. Mit der Menschwerdung Christi wäre diese Funktion beendet gewesen. Diese Lehre blieb jahrhundertelang vorherrschend, bis in der nachkonziliaren Zeit einige Änderungen eingeführt wurden. So erkannte beispielsweise der heilige Johannes Paul II. eine tiefe Verbundenheit zwischen Christentum und Judentum an, was zur diplomatischen Anerkennung des Staates Israel durch den Vatikan führte. Nitoglia hingegen vertritt die Ansicht, dass wahre christliche Nächstenliebe gegenüber dem jüdischen Volk darin besteht, ihm die Möglichkeit zu bieten, die Wahrheit des christlichen Glaubens anzuerkennen.
Was die Frage des Gottesmordes betrifft, so schreibt die patristische Auslegung der jüdischen Religion die theologische Verantwortung für die Verurteilung Jesu zu. Nitoglia berichtet über die Gedanken des heiligen Thomas von Aquin und anderer mittelalterlicher Theologen, denen zufolge die religiöse Klasse der damaligen Zeit mit vollem Bewusstsein handelte. Das Zweite Vatikanische Konzil distanzierte sich jedoch von dieser Auslegung und erklärte, dass das jüdische Volk nicht kollektiv schuldig gesprochen oder von Gott verstoßen werden könne, eine Entscheidung, die der Autor als im Widerspruch zur vorherigen Tradition stehend betrachtet.
In der jüdischen Tradition wurde der Messias tatsächlich als historische und politische Figur erwartet, während sich diese Erwartung in der Neuzeit in einen symbolischen Schlüssel verwandelt hat, wobei Emanzipation und Zionismus als mögliche Erfüllungen des Messianismus angesehen werden. Die Frage des Ritualmords ist nach wie vor ein langjähriges Thema, das Nitoglia in einer spezifischen Studie untersucht und dabei einen Überblick über historische Quellen und widersprüchliche Meinungen bietet.
Die Kapitel über die Kabbala und den Talmud sind besonders interessant. Der katholische Priester unterscheidet zwischen einer „reinen“, ursprünglichen und göttlichen Kabbala und einer „veränderten“ Kabbala, die von esoterischen Interpretationen beeinflusst ist. Aus diesen Unterscheidungen ergeben sich zwei Weltanschauungen: eine christliche und kontemplative, die andere eher operativ und mit der Idee des Fortschritts verbunden.
Sicher ist, dass der Talmud nicht als Quelle europäischer Werte angesehen werden kann. Es gibt einen offensichtlichen Widerspruch, eine historische, kulturelle und politische Distanz, die nicht ignoriert werden kann.
Ich schließe mit den Worten des großen italienischen Dichters Dante Alighieri aus dem fünften Gesang des Paradiso der Göttlichen Komödie:
Siate, Cristiani, a muovervi più gravi:
non siate come penna ad ogne vento,
e non crediate ch’ogne acqua vi lavi.Avete il novo e ‘l vecchio Testamento,
e ‘l pastor de la Chiesa che vi guida;
questo vi basti a vostro salvamento.Se mala cupidigia altro vi grida,
uomini siate, e non pecore matte,
sì che ‘l Giudeo di voi tra voi non rida!
[Deutsch]
Seid ernst, Christen, und handelt:
seid nicht wie eine Feder im Wind,
und glaubt nicht, dass alles Wasser euch reinwäscht.
Ihr habt das Neue und das Alte Testament,
und den Hirten der Kirche, der euch führt;
das ist genug für eure Erlösung.
Wenn die böse Gier euch etwas anderes einflüstert,
seid Männer, keine verrückten Schafe,
damit der Jude unter euch euch nicht auslacht!