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Warum sind nur Italiens “Rechtsextreme” gegen Impfpässe?

Hier eine Frage zum Mitraten: Welche italienische politische Partei glaubt, dass die Freiheit des Einzelnen von elementarer Wichtigkeit ist? Antwort: Es die Fratelli d’Italia (Brüder Italiens), also jene Partei, die von den internationalen Medien stets als „rechtsextrem“ oder „faschistisch“ bezeichnet wird und gleichzeitig in aktuellen Meinungsumfragen die beliebteste Partei Italiens ist.

Hier in Italien, der Wiege des Faschismus, hat sich die 44-jährige Vorsitzende der rechten Fratelli d’Italia – Giorgia Meloni – für wahrlich lupenreine antifaschistische Werte eingesetzt. Als Verteidigerin individueller Freiheit hat sie sich leidenschaftlich gegen das am 22. Juli vom italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi erlassene Dekret ausgesprochen, mit er in Italien den „Grünen Pass“ eingeführt hat. Mit dieser Verordnung wird allen Italienern über 12 Jahren der Zutritt zu den meisten öffentlichen Räumlichkeiten und auch zu vielen offenen Plätzen, wenn sie nicht mit diesem digitalen Pass ausgestattet sind, der nachweist, dass sie mindestens eine Covid-Impfung erhalten haben.

Der grüne Pass ist nach der vollständigen Impfung neun Monate lang gültig. Im Falle einer Doppelimpfung ist er bis zum nächsten Impfdurchgang gültig. Eine sechs Monate dauernde Ausnahmen gibt es nur für all jene, die eine Infektion durchgemacht haben, sowie für 48 Stunden, wenn ein negativer Test vorliegt.

Roger Scruton, nicht Mussolini

Meloni tobt in Anbetracht dieser Maßnahme. „Die Vorstellung, dass dieser grüne Pass zur Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist erschreckend und der ultimative Schritt zur Verwirklichung einer Orwellschen Gesellschaft“, twitterte sie, nachdem derEx-EZB Chef Draghi die Nachricht verkündete. „Die Maßnahme ist eine verfassungswidrige Wahnsinnstat, die von Fratelli d’Italia rundheraus abgelehnt wird, denn für uns ist die individuelle Freiheit heilig und unantastbar.“

Sie bezeichnete den Grünen Pass überdies als „wirtschaftlichen Selbstmord“ und Draghis düstere Warnung, wonach „jede Aufforderung, sich nicht impfen zu lassen, einer Aufforderung zum Sterben gleichkommt“ als reine Panikmache.

Am vergangenen Donnerstag protestierten die Abgeordneten ihrer Partei lautstark mit Plakaten und Masken vor dem italienischen Abgeordnetenhaus, weswegen die Parlamentssitzung für eine Stunde unterbrochen werden musste. Der Protest entzündete sich nach einer Weigerung durch Draghis Regierung, eine geheime Abstimmung über ihren Antrag zuzulassen, mit dem das Dekret aufgrund seiner diskriminerenden Natur für verfassungswidrig erklärt würde – was es auch ist. Sie haben die Abstimmung verloren.

Es ist wirklich seltsam, wie Meloni die individuelle Freiheit bis zum Äußersten verteidigt, denn immerhin ging ihre Partei aus der Asche der faschistischen Nachkriegspartei Italiens hervor. Doch es sind keineswegs die Schriften von Benito Mussolini, dem ehemals Journalisten und revolutionären Sozialisten, der später den Faschismus begründete, von Meloni heute inspiriert wird, sondern die Arbeiten des verstorbenen britischen konservativen Philosophen Sir Roger Scruton.

Meloni ist Vorsitzender der Fraktion der Konservativen und Reformisten im Europäischen Parlament. In einer Laudatio auf Scruton in der Mailänder Tageszeitung Il Giornale schrieb sie im vergangenen Januar: „Als Vorsitzende der ECR, der Partei der europäischen Konservativen, ist es meine Absicht, die Figur von Sir Roger Scruton als eine der Säulen des europäischen Konservatismus zu fördern, vor allem bei jungen Menschen.“

Die Luft wird langsam aber stetig abgedreht

Es wird erwartet, dass Draghi – übrigens Italiens sechster nicht gewählter Ministerpräsident in Folge, seitdem Silvio Berlusconi 2011 zurückgetren ist – jeden Tag das Verbot für ungeimpfte Italiener ausweitet und dabei auch das Recht auf die Verwendung öffentlicher Verkehrsmittel zur Disposition gestellt werden wird. Eine Ausnahme wird nur für Busse erwartet, da diese als nicht kontrollierbar gelten.

Auch wenn Draghi bislang noch nicht ein allgemeines Arbeitsverbot für ungeimpfte Italiener ins Gespräch brachte, hat sein Dekret heute schon auswirkungen auf Mitarbeiter bestimmter Branchen und insbesondere den Tourismussektor. Für Mitarbeiter im Gesundheitswesen gilt seit April ohnehin eine Impfpflicht, auch wenn sich viele unter diesen einer Impfung verweigern. Sollte Italien eine hohe Welle mit der Deltavariante des Virus erleben – derzeit gibt es nur etwa 6.000 neue Fälle pro Tag und damit weit weniger als in Frankreich und Großbritannien – kann damit gerechnet werden, dass Impfungen mit Beginn des neuen Schuljahres im September sicherlich auch für Lehrer eine obligatorisch werden. Die Anwälte des Landes werden sich mit Sicherheit jetzt schon die Hände reiben in Anbetracht all der Rechtsstreitigkeiten, die sich aus einem derartigen Eingriff in die Menschenrechte, die Privatsphäre und das Arbeitsrecht ergeben werden.

Laut WHO-Zahlen hat in Italien mindestens 63,5 Prozent der Gesamtbevölkerung eine Impfdosis erhalten. Im Vergleich dazu waren es 61,8 Prozent in Frankreich und 68,95 Prozent in Großbritannien. Nach meiner eigenen Rechnung haben damit 69 % der italienischen Bevölkerung über 12 Jahren mindestens eine Dosis erhalten. Mit 31% oder etwas mehr als 17 Millionen Menschen bleiben damit verdammt viele Italiener übrig, die ab diesem Freitag vom Gesellschaftsleben ausgeschlossen werden. Bei den meisten davon handelt es sich um Jugendliche und junge Erwachsene, also jenen, bei denen eine ernste Erkrankung selbst ohne Impfung fast ausgeschlossen werden kann.

Seltsame Ruhe auf Italiens Straßen

Trotz dieser drakonischen Einschränkung der individuellen Freiheit kam es in Italien kaum zu öffentlichen Protesten. In Frankreich sind Zehntausende auf die Straße gegangen, um gegen Macrons vergleichbar drakonische Maßnahmen gegen Ungeimpfte vorzugehen. In Italien jedoch bekundeten lediglich einige Tausend an verschiedenen Orten verstreut ihren Unmut gegen Draghis Grünen Pass.

Diese Abwesenheit des Protests mutet seltsam an. Immerhin ist Melonis Fratelli d’Italia neben der Lega – der anderen international gerne als „rechtsextrem“ bezeichnete Partei – die populärste Partei in Italien. Bei den letzten Parlamentswahlen 2018 erhielt Fratelli d’Italia hat nur 4 Prozent der Stimmen, liegt momentan allerdings gleichauf mit der Lega bei rund 20 Prozent. Sollten die nächsten Wahlen turnusgemäß im Jahr 2023 stattfinden, dann werden beide Parteien als Koalition sicher regieren, sollten sie wie in der Vergangenheit gemeinsam mit Berlusconis Forza Italia antreten.

Auf der politischen Linken kommet die Demokratische Partei nur auf 19 Prozent der Stimmen, während die alternativlinke (oder altlinke?) Fünfsternebewegung bei 16 Prozent steht.

Wie Meloni ist auch der Lega Vorsitzende Matteo Salvini gegen den Grünen Pass. Da er sich jedoch Draghis Nationaler Einheitsregierung angeschlossen hat, kann er sich nicht so kritisch zu den Vorschlägen äußern. Weder Meloni noch Salvini sind per se gegen das Impfen und sie vertreten auch keine Verschwörungstheorien zum Thema, beide haben inzwischen sogar eine Dosis des Impfstoffs erhalten. Doch sie beide lehnen eine Impfpflicht auch vehement ab.

Eine Erklärung für die gedämpften Proteste in Italien ist, dass Umfragen zufolge zwischen zwei Drittel und drei Viertel der Italiener den Grünen Pass befürworten und auch eine Mehrheit der Anhänger von Fratelli d’Italia und La Lega für deren Einführung ist. Zum Vergleich unterstützt auch in Frankreich eine klare, allerdings nicht so große Mehrheit den Zwang zu Impfpässen. Dennoch kam es dort zu Massenprotesten dagegen.

Italien ein gut geölter Polizeistaat

Ich vermute, dass diesse Protestunwilligkeit an der italienischen Mentalität liegen könnte. Italien war zwei Jahrzehnte lang faschistisch und Mussolini war bei den Italienern sehr beliebt, bis er das fatale Bündnis mit Hitler einging. Nach dem Sturz des Faschismus 1945 konnte sich Italien nie zu einem demokratischen Hort der individuellen Freiheit entwickeln. Während man in Großbritannien – zumindest vor den Übergriffen durch die EU – stets alles tun und lassen konnte, gegen das es kein Gesetz gibt, funktionierte Italien und andere vom Code Napoeon geprägte Länder immer so, dass nichts erlaubt ist, was zuvor nicht vom Staat genehmigt wurde.

Die offensichtlichsten Anzeichen für ein Freiheitsdefizit in Italien sind die obligatorischen Personalausweise, Gerichtsverfahren, die sich über Jahre hinziehen und ergebnislos enden und auch die zahlreichen unterschiedlichen Polizeibehörden, die – allesamt bis an die Zähne bewaffnet – jederzeit willkürliche Straßenkontrollen durchführen dürfen und das auch gerne machen. Und zwar ständig. [Die Frage wäre, warum es dennoch die ganze Zeit illegale Migranten durch die Kontrollen schaffen.]

Draghis drakonische Maßnahmen gegen Ungeimpfte passen zu den Sitten in Italien, der Staat ist darauf gut vorbereitet. Eine derartige Herdenmentalität ist für Diktatoren ein Geschenk des Himmels, aber eine tödliche Bedrohung für die Freiheit.

Meloni und Scruton

Wie Meloni in demselben Giornale-Artikel schrieb: „Das größte kulturelle Erbe, das Scruton uns hinterließ, ist meines Erachtens seine außergewöhnliche Fähigkeit, die tieferen Gründe für seine Liebe zum Kleinen und zum Großen zu beschreiben und zu begründen warum sie seiner Meinung nach beide erhaltenswert sind. In seinem Denken genoss der Schutz von Traditionen kleiner Gemeinschaften den selben Stellenwert wie höchsten sozialen und politischen Errungenschaften, wie etwa die Befreiung der vom Joch der Sowjetunion unterworfenen Menschen. Er erklärte uns, dass die Idee des Konservatismus aus der Erkenntnis reift, dass es viel einfach ist, etwas zu zerstören, denn etwas zu erschaffen.

Man kann es kaum hoch genug bewerten, dass ein konservativer Engländer wie Sir Roger Scruton einen so starken Einfluss auf Italiens Postfaschisten ausübte, dass sie sich von ihrer alten Ideologie abwandten. Scruton schaffte es, eine noch junge Frau – die durchaus Italiens nächste Ministerpräsidentin werden könnte – so sehr zu inspirieren, dass sie ihre kleine postfaschistische Partei mit staatlichen Allmachtsphantasien in eine patriotische, konservative Partei umzuwandeln bgann, so dass sie heute die Fackel der individuellen Freiheit hochhält und darüber hinaus sogar immer mehr Wähler gewinnt.