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Moskau ergreift die Initiative zur Lösung der Afghanistan-Frage

Moskau ergreift die Initiative zur Lösung der Afghanistan-Frage

Am 20. Oktober fanden in der russischen Hauptstadt die Konsultationen des Moskauer Formats zu Afghanistan statt, an denen neben Mitgliedern der Taliban auch Vertreter Chinas, Pakistans, Irans, Indiens, Kasachstans, Kirgisistans, Tadschikistans, Turkmenistans und Usbekistans teilnahmen. Die USA begrüßten die Gespräche, erklärten jedoch, dass sie sich bei diesem Treffen der Stimme enthalten würden. Russland war bei den Gesprächen durch Außenminister Sergej Lawrow vertreten, Afghanistan durch Amir Khan Muttaqi, den amtierenden Außenminister der Taliban-Regierung.

Die Moskauer Gespräche fanden statt, obwohl kein Land (auch nicht Russland) die Taliban als rechtmäßigen Herrscher Afghanistans anerkannt hatte.

In der Erklärung des russischen Außenministeriums nach dem Treffen wurde hervorgehoben, dass bei den Beziehungen zu Afghanistan die neue Realität berücksichtigt werden müsse, d. h. die Machtübernahme durch die Taliban, ungeachtet der offiziellen Anerkennung der neuen afghanischen Regierung durch die internationale Gemeinschaft. Die Taliban werden in den meisten Ländern der Welt als terroristische Organisation eingestuft, ihre Aktivitäten und jegliche offizielle Interaktion mit ihren Vertretern sind in Russland verboten. Dennoch unterhält Moskau Beziehungen zu den Führern der Bewegung, die mehr als einmal zu Gesprächen in die russische Hauptstadt gekommen sind.

Angesichts der Wirtschaftskrise, die nach der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan ausgebrochen ist (die u.a. durch das Einfrieren afghanischer Finanzmittel in ausländischen Banken verursacht wurde), war die wirtschaftliche Lage des Landes ein wichtiges Thema der Gespräche. Beide Seiten erkannten an, dass sich die wirtschaftliche und humanitäre Lage in Afghanistan verschlechtert und betonten, dass die internationale Gemeinschaft ihr Bestes tun sollte, um der Bevölkerung des Landes zu helfen. Zur Beschaffung von Mitteln schlugen beide Seiten vor, eine internationale Geberkonferenz unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen einzuberufen. Gleichzeitig betonten sie, dass die Hauptlast der Finanzierung des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Entwicklung Afghanistans von den NATO-Mitgliedern, einschließlich der Vereinigten Staaten, getragen werden sollte, die in den letzten zwei Jahrzehnten eine militärische Präsenz in dem Land aufrechterhalten haben und somit einen großen Anteil an der derzeitigen Lage in Afghanistan haben.

Die Konferenzteilnehmer brachten ihren Respekt für die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität Afghanistans zum Ausdruck, heißt es auf der Website des Außenministeriums. Sie bekräftigten außerdem ihre Bereitschaft, die Sicherheit in Afghanistan weiterhin zu fördern, um die Ausbreitung von Terrororganisationen auf dem afghanischen Staatsgebiet zu verhindern.

Die an den Gesprächen teilnehmenden Länder riefen die Taliban zu einer „gemäßigten und soliden“ Innen- und Außenpolitik sowie zu einer freundlichen Politik gegenüber ihren Nachbarn auf.

Die Seiten forderten die Taliban außerdem auf, „weitere Schritte zur Verbesserung der Regierungsführung“ zu unternehmen, einschließlich der Bildung einer inklusiven Regierung, die alle nationalen ethnopolitischen Kräfte des Landes umfasst.

Diese Konferenz war die erste, die seit der Machtübernahme durch die Taliban auf so hohem Niveau stattfand. Die Bedrohung durch erneute Angriffe der ISIS auf die Taliban-Kräfte, die die Sicherheitsverpflichtungen der neuen afghanischen Führung untergraben würden, veranlasste Russland, die Initiative für diese Konferenz zu ergreifen. Eines der Hauptziele Moskaus besteht darin, die DAESH innerhalb der afghanischen Grenzen einzudämmen und zu verhindern, dass die Kämpfer in die postsowjetischen zentralasiatischen Republiken eindringen, eine Tatsache, die Russland dazu veranlasst, trotz der traditionell komplizierten Beziehungen Kontakte zu den Taliban zu suchen.

In Bezug auf die Beziehungen zu den Taliban wählte Moskau einen zweigleisigen Ansatz: Einerseits eröffnete es einen Dialog, indem es im Juni eine Taliban-Delegation in Moskau empfing, während es in Bezug auf die Grenz- und Sicherheitsverpflichtungen mehrere Grenzen zog. Andererseits bewies Moskau, dass es in der Lage ist, eine harte Linie zu fahren, als Russland kürzlich gemeinsame Feldübungen mit Tadschikistan und Usbekistan durchführte. Gleichzeitig erinnert sich Moskau noch an die Ereignisse der 1990er Jahre, als Kämpfer mit engen Verbindungen zu den Taliban versuchten, den Dschihad nach Tadschikistan zu bringen. Als der „Heilige Krieg“ scheiterte, zog der wichtigste Feldkommandeur nach Tschetschenien.

Bei der Bewertung der Ergebnisse des Moskauer Treffens betonte die Schweizer Zeitung Le Temps, dass es eindeutig von einer Vernachlässigung der westlichen Länder zeuge, da die Vereinigten Staaten selbst zu dem Treffen eingeladen waren, aber schließlich unter Hinweis auf „logistische Schwierigkeiten“ nicht erschienen sind. Der US-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Zalmay Khalilzad, der über den Abzug der US-Streitkräfte verhandelt hatte, kündigte seinen Rücktritt an, womit er sein Scheitern in diesem Amt einräumte. Darüber hinaus zitiert die Zeitung eine kürzlich im Economist veröffentlichte Einschätzung, wonach Afghanistan den endgültigen Zusammenbruch des Glaubens nach dem Kalten Krieg verkörpert, die Vereinigten Staaten seien in der Lage, die Welt nach ihrem eigenen Bild umzugestalten.

„Heute spielt die Zeit den neuen Machthabern in Kabul direkt in die Hände. Vorerst machen sie nicht viele Fehler, denn die diplomatischen Verbeugungen der Regionalstaaten stehen angeblich kurz bevor“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Darüber hinaus weist das Blatt darauf hin, dass die Taliban in Moskau mit Vertretern Chinas, Indiens, des Irans und anderer Nachbarländer am Verhandlungstisch saßen. Dies wiederum bedeutet einen Sieg Moskaus im Kräftemessen mit Washington in Zentralasien. Im Gegensatz zu den Amerikanern, den Briten oder den Deutschen waren sich die russischen Experten für die Region seit langem darüber im Klaren, dass eine Machtübernahme durch die Taliban ein wahrscheinliches Szenario ist. Deshalb bemühten sie sich um konsultative Beziehungen zu ihnen, sprachen mit den Islamisten, setzten aber gleichzeitig auf militärische Abschreckung. Als Gegenleistung für gutes Benehmen könnten die Militanten mit einem gewissen Maß an Kooperation, einer helfenden Hand beim Wiederaufbau des Landes und, je nach den Interessen, die auf dem Spiel stehen, mit gelegentlicher diplomatischer Unterstützung für das Kabuler Schurkenregime belohnt werden. „Eine solche Politik wird Moskau nicht vor Bedrohungen schützen. Aber zumindest hat Russland jetzt mehr Autorität und mehr Einfluss am Hindukusch als die USA“, so die Schlussfolgerung des Medienhauses.