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Wie der Westen das Fell des russischen Bären teilen will – 5 Szenarien der Zukunft Russlands
Gettyimages.ru © Bo Zaunders

Wie der Westen das Fell des russischen Bären teilen will – 5 Szenarien der Zukunft Russlands

Der US-amerikanische „Russland-Experte“ Stephen Kotkin hat in einem Artikel fünf Szenarien der Zukunft Russlands vorgestellt. Sie schwanken von feuchten Träumen der US-Eliten bis zu deren Alpträumen, sagen aber letztlich mehr über den Zustand der USA selbst als über denjenigen Russlands aus.

Von Wiktorija Nikiforowa

Nicht weniger als fünf Szenarien für unsere Zukunft hat der bekannte amerikanische Russland-Experte Stephen Kotkin der Öffentlichkeit vorgestellt. Sein dreibändiges Buch über Stalin, das übrigens voll von wütendem Hass auf die UdSSR ist, wurde bereits originalgetreu ins Russische übersetzt und vom Verlag des Gaidar-Instituts veröffentlicht. Damit wir nicht vergessen, wie wir über unsere Geschichte zu denken haben. Ohne Kotkin sind wir ja aufgeschmissen.

Der Experte geht seit fast einem Jahr mit seinen fünf Szenarien für Russland hausieren, aber in seiner jüngsten Veröffentlichung in der Zeitschrift Foreign Affairs entwickelt er sein Konzept weiter und gibt der amerikanischen Führung Ratschläge, was mit Russland zu tun ist und wie man es auf den von den Amerikanern gewünschten Entwicklungspfad bringen kann. Die Veröffentlichung ist auch für uns interessant, gibt sie doch Einblick sowohl in die Schwächen der Amerikaner als auch in ihre strategischen Ansätze unserem Land gegenüber.

Kotkin wendet sich auch an die prowestlichen Russen, an „die Guten“ unter uns. Deshalb zeichnet er das erste Szenario für die Zukunft unseres Landes nach dem Ende Putins als das „russische Frankreich“.

Die These vom „zweiten Frankreich“ haben wir schon einmal irgendwo gehört. Soweit ich mich erinnere, wurde vor vielen Jahren der Ukraine versprochen, aus ihr ein Frankreich zu machen. Irgendetwas ging dabei offenbar schief. Noch früher sollten Georgien (Tiflis ‒ das georgische Paris) und Armenien (Eriwan ‒ das armenische Paris) zu Frankreich werden. Wie steht es aktuell darum?

Das „russische Frankreich“ soll ein militärisch starkes Land sein, das Washington nicht um Geld bittet und trotzdem alle Befehle von jenseits des Ozeans treu ausführt. Klar, dass dies der feuchte Traum Washingtons ist. Wie wir aber an den oben genannten Beispielen der ukrainischen, georgischen und armenischen „Frankreiche“ sehen können, endet dies für die betroffenen Länder in hoffnungsloser Armut sowie verlorenen Kriegen, Territorien und Einwohnern. Also nein, auf diese Verlockung fallen wir nicht mehr herein.

Solche Versuchungen konnten in den 1990er Jahren funktionieren, als die ehemalige UdSSR in Trümmern lag und Frankreich vor diesem Hintergrund ein reiches Land zu sein schien. Aber heute liegt die russische Wirtschaft an fünfter Stelle in der Welt, während die französische auf den neunten Platz abgerutscht ist, der Abstand zu unseren Gunsten wird immer größer. Und das kann jeder sehen, auch die prowestlichen Russen. Wenn die sowjetische Mittelschicht den Traum von Europa massiv unterstützte, so hat sie heute die Welt bereist und alles gesehen ‒ sie lässt sich nicht mehr täuschen.

Das zweite Szenario heißt bei Kotkin „Russland in den Schützengräben“ („Russia retrenched“). Es sieht wie ein reines Oxymoron aus. Russland bleibt stark und „autoritär“, wird aber von einem wundersamen Herrscher angeführt, der sich selbst zwar als „russischen Nationalisten“ bezeichnet, aber aus unerklärlichen Gründen beschlossen hat, sich aus der Ukraine zurückzuziehen und ihr den Beitritt zur NATO zu ermöglichen. Einen, der das Land isoliert hat und es im gesamten postsowjetischen Raum von amerikanischen Militärstützpunkten umzingeln ließ.

Das hört sich wenig logisch an, zeigt aber in Wirklichkeit, welche Art von Marionette die Amerikaner uns gern unterjubeln würden. Es sollte ein Mann sein, der alle Interessen unseres Landes aufgeben würde, der sich selbst aus dem Kampf um die Kontrolle im postsowjetischen Raum ausschalten würde, aber das alles mit patriotischen Phrasen tun würde. Was im Prinzip weder überraschend noch neu ist. Auch der Blogger Nawalny spielte viele Jahre einen russischen Nationalisten.

Das dritte Szenario ist müde Panikmache, dass Russland „Chinas Vasall“ wird. Auch dies ist eine lächerliche Utopie. Bisher erlauben es weder die Stärke unserer Wirtschaft, noch der Reichtum unserer Rohstoffbasis, noch die Kampffähigkeiten unserer Armee, noch unsere Atomwaffen irgendjemandem in der Welt ‒ nicht einmal den Vereinigten Staaten selbst ‒ unser Land zu ihrem Vasallen zu degradieren. Warum sollte es China gelingen ‒ bei allem Respekt vor dem Reich der Mitte, natürlich?

Das vierte Szenario ist eine Abwandlung desselben Themas, wonach Russland sich in ein zweites Nordkorea verwandeln wird. 

Schließlich das fünfte Szenario, und das ist der feuchteste Traum der Amerikaner – ein totales Armageddon in unserem Land, Chaos, Rebellion, Zerfall und Krieg aller gegen alle.

Was haben diese fantastischen Szenarien gemeinsam? Die Tatsache, dass jedes von ihnen nur nach unserer Niederlage, und zwar einer totalen Niederlage, auch nur die geringste Chance auf Verwirklichung hat. Und zwar nicht nach einem situationsbedingten Rückzug in der Ukraine, sondern nach einer Niederlage in einem echten Weltkrieg, mit allem, was dazugehört, einschließlich des Austauschs von Atomschlägen.

Ohne eine solche Niederlage taugt Kotkins Argumentation nur als Bewerbung für einen Science-Fiction-Actionfilm über Mütterchen Russland, in dem immer alles brennt, explodiert und schießt, und dann kommt ein blonder russischer Nationalist unter Glockengeläut an die Macht und küsst den amerikanischen Präsidenten (mit Will Smith in der Rolle des amerikanischen Präsidenten).

Interessant ist jedoch, zu welchen Schachzügen Kotkin seinen Gastgebern in der aktuellen Runde des Großen Spiels rät.

Erstens müsse man den richtigen „Nationalisten“ in Russland finden, der den Amerikanern alles zu überlassen bereit ist:

„Washington muss auf einen nationalistischen Reset in Russland vorbereitet sein und ihn fleißig fördern.“

Zweitens soll versucht werden, Russland von China zu trennen, denn deren Bündnis ist, wie die letzten Jahre gezeigt haben, absolut unschlagbar. Um dies zu erreichen, wird Washington aufgefordert, Peking einzudämmen, ohne auf militärische Maßnahmen zurückzugreifen. Danach solle „das Nixon-Kissinger-Manöver“ wiederholt werden. China soll bei der Eindämmung Russlands helfen.

Der wichtigste Ratschlag besteht jedoch darin, endlich die eigenen Probleme Amerikas zu lösen. Billige Hypotheken wie in Russland müssen her, Häuser zu vernünftigen Preisen müssen gebaut werden, denn die schrecklichste Bruchbude kostet aktuell bereits Hunderttausende von Dollar. Nicht weniger als eine Million Mathematiklehrer müssen in zehn Jahren ausgebildet werden, denn die amerikanischen Schüler haben das Rechnen verlernt, während die russischen Schüler inzwischen die Weltolympiaden wie Peanuts knacken. Auch neue Rüstungsgüter sollten hergestellt werden ‒ wiederum, um aufzuholen und Russland zu überholen.

An dem letztgenannten Ratschlag – die aufgestauten internen Probleme zu lösen – können Sie sehen, wie weit die Krise in den USA fortgeschritten ist. BIP-Zahlen können gezeichnet werden, wie man lustig ist, sie täuschen jedoch nicht darüber hinweg, dass in vielen Positionen heute die USA Russland hinterherhinken, nicht umgekehrt. Die ganze Welt kann das sehen. Das Einzige, was diesem dekadenten Staat bleibt, sind die besagten feuchten Träume vom Zusammenbruch und Zerfall Russlands und der Teilung des Fells des nicht erlegten russischen Bären. 

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 22. April 2024 auf ria.ru erschienen.